(Archiviert) Mit den nächsten Blog-Texten möchte ich mich einigen Phänomenen der Moderne in der Kunst zuwenden. Dabei erscheint es mir sinnvoll, zunächst einmal zu klären, was Kunsthistoriker unter der "Moderne" eigentlich verstehen und wodurch sie sich auszeichnet. Denn tatsächlich geistern die unterschiedlichsten Vorstellungen sogar durch die Fach-Publikationen - und jeder dieser Vorstellungen ist zu entnehmen, wie viele Gedanken sich der jeweilige Autor über den Begriff der "Moderne" gemacht hat (und wie weit er über den berühmten Tellerrand 'seiner' Epoche hinaussieht).
Da dies kein Fachaufsatz, sondern nur ein kleiner Blogtext ist, werde ich auf umfangreiche, kulturhistorische Herleitungen verzichten. Das Folgende sind eher Stichworte, die ohne eine Forschungsdiskussion die wichtigsten Fakten zusammenstellt. Ausführlicher ist dies in den Bänden 2 (Gauguin) und 4 (Marc) der Reihe einblicke nachzulesen.
Zeitlich: die Epoche
Wir denken und sprechen gern in Epochenbegriffen. "Die Epoche" suggeriert eine gewisse Einheitlichkeit innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts, worin immer diese Einheitlichkeit auch bestehen mag. In der Kunst liegt es nahe, einen Stil als Kennzeichen einer Epoche anzusehen.
Gerade bei der Moderne ist dies jedoch nicht der Fall: Es gibt keinen einheitlichen Stil, der diese 'Epoche' kennzeichnen würde und an dem man die Zugehörigkeit eines Kunstwerks zu ihr erkennen könnte. Vielmehr ist es gerade ein Ideal moderner Künstler - je weiter wir im 19. und 20. Jahrhundert fortschreiten, umso mehr -, ihren jeweils eigenen Stil zu entwickeln, der authentisch ihre individuellen, subjektiv gedeuteten Erfahrungen ausdrückt, statt akademischen Regeln zu folgen, die beispielsweise auch Kriegsdarstellungen nach den Kriterien einer zu Objektivität strebenden, künstlerischen Schönheit beurteilt.
Das war am Beginn der Moderne um 1800 selbstverständlich noch nicht im gleichen Maße der Fall wie an ihrem Ende, das gewöhnlich kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzt wird.
Gustave Courbet, Die Steinklopfer, 1849; Dresden, Gemäldegalerie
Paul Cézanne, Die großen Badenden, 1900-05; London, National Gallery
Gustave Courbet beispielsweise, einer der berühmtesten, modernen Künstler, malte in einem vollkommen anderen Stil als Paul Cézanne. Seine Revolution bestand mehr in den Motiven, die er wählte, als in der Art und Weise, wie er sie darstellte. Cézanne dagegen suchte bei eher klassischen Motiven explizit
nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und fand sie in einem Stil, der die Kunstgeschichte in der Folgezeit nachhaltig beeinflussen sollte. Immer sahen sich die nachfolgenden Künstler-Generationen etwas von den Erfindungen ihrer Vorgänger ab, aber in der Moderne wurde es zu einem Ideal, weiterzugehen, die Kunst weiterzuentwickeln und zu verändern, nach
Émile Bernard, Buchweizen-Erntearbeiter in Pont-Aven, 1888; Schweiz, Sammlung Josefowitz
William Turner, Regen, Dampf und Geschwindigkeit, 1844; London, National Gallery
neuen Möglichkeiten zu suchen, um das eigene Erleben künstlerisch auszudrücken. Bei Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Émile Bernard
ging es dabei um ihr Verhältnis zur Natur, das im Zeitalter der Industrialisierung bereits gestört war, doch im Gegensatz dazu ging es anderen Künstlern der Moderne, wie beispielsweise
William Turner und Édouard Manet, gerade um die neuartigen Eindrücke, die die Industrialisierung mit sich brachte, Eindrücke, die vollständig neue Erfahrungen hervorriefen wie zum Beispiel eine bisher nicht gekannte Geschwindigkeit, mit der sich der Mensch mit der Eisenbahn plötzlich fortbewegen konnte, oder wie die Faszination der Dampfmaschine, die Manet in seinem Bild "Die Eisenbahn" wie ein lebendiges Tier hinter dem Gitter eines Zoo-Käfigs zeigt: die Eisenbahn, die sich dampfend, zischend und fauchend mitten durch die Städte
Édouard Manet, Die Eisenbahn, 1872-73; Washington D.C., National Gallery of Art
unten: London, Euston-Station, Aufnahme von 1896
schiebt, denen sie mit den notwendigen Gebäuden, der Infrastruktur, nun ihren ganz eigenen, neuen Stempel aufdrückte. Für all dies gab es, wie für die Darstellung von Straßenbauarbeitern (Steineklopfern), in der Kunst keine angemessenen Ausdrucksmittel, so wie es für bestimmte künstlerische Aufgaben keine vorgegebenen, architektonischen Formen gab, in denen sie gebaut werden konnten. Als beispielsweise die U-Bahn erfunden wurde,
mussten Bahnhöfe mitten in der Stadt gebaut werden - aber wie baut man soetwas? Was ist überhaupt ein Bahnhof? Und welche Formen sollte man verwenden, um diese
neuartige Funktion eines Bauwerks nach außen hin sichtbar zu machen? Tatsächlich entwickelte man am Beginn des 19. Jahrhunderts in London und später auch noch
Berlin, U-Bahnhof Wittenbergplatz, Aufnahme 1930
in Paris und Berlin zunächst keine gänzlich neuen Formen, um der neuen Bauaufgabe gerecht zu werden, sondern der Zeit des Historismus entsprechend griff man auf das klassische Formenrepertoire der Architekturgeschichte zurück - in diesem Fall auf das Formenrepertoire griechischer Tempelbauten; aus heutiger Sicht ein nicht eben naheliegender Gedankengang, der auf der anderen Seit die Hilflosigkeit einer ganzen Architektengeneration gegenüber veränderten Verhältnissen innerhalb der Kultur sichtbar macht. Gerade diese Bauten aber werfen die Frage auf:
Ist dies nun moderne Architektur?
Und daraus ergibt sich wiederum die Frage: Welche Kriterien habe ich, um diese Frage zu entscheiden, ob also etwas moderne Architektur ist oder nicht?
Inhaltlich: Wodurch zeichnet sich 'moderne Kunst' aus?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns also damit beschäftigen, was 'moderne Kunst' eigentlich auszeichnet. Was macht moderne Kunst zu moderner Kunst?
Mit der Frage einer inhaltlichen Bestimmung moderner Kunst haben wir uns in diesen Blogtexten im Zusammenhang von Franz Xaver Winterhalter schon einmal beschäftigt.
Um nun die Kennzeichen der Kunst der Moderne zu beschreiben, hier ein Auszug aus meinem Buch über Franz Marc:
Seit dem späten 18. Jahrhundert findet die Kunst interessanterweise recht schnell zur Modernität. Schon bei dem spanischen Maler und Radierer Francisco José de Goya y Lycientes (1746–1828), kurz: Goya, bricht sie sich eine Bahn, als er 1808–1814 in den Druckgraphiken der Desastres de la Guerra („Schrecken des Kriegs“) nach einer adäquaten Umsetzung dieser Schrecken in der Kunst suchte. – Hier trifft er sich im Übrigen mit Franz Marc, der im September 1914, während er selbst als Soldat im Krieg war, in einem Brief an seine Frau Maria schrieb:
„Es ist unglaublich, daß es Zeiten gab, in denen man den Krieg darstellte durch Malen von Lagerfeuern, brennenden Dörfern, jagenden Reitern, stürzenden Pferden od. Patrouillenreitern u. dergl. Dieser Gedanke erscheint mir direkt komisch, selbst wenn ich an Delacroix denke, der’s doch noch am besten gekonnt hat.“ (Anm. 1)
Vor eben diesem Hintergrund machte sich auch Goya auf, nach künstlerischen Mitteln für die Darstellung von Krieg zu suchen. Krieg ist grausam und hässlich. Es entspricht ihm daher in keiner Weise, ihn schön darzustellen, mit Soldaten in sauberen Uniformen, in malerischen Formationen durch ausnahmslos von der Sonne beschienene, pittoreske Landschaften reitend oder marschierend, unter den wachsamen Augen ihres weisen und gütigen Feldherrn.
Solche Darstellungen kennen wir von vielen Malern noch des 19. Jahrhunderts, unter ihnen Ernest Meissonier (1815–1891), der berühmteste, französische Maler dieses Jahrhunderts (Anm. 2) , und Wilhelm von Kobell (1766–1855), seit 1792 Hofmaler in München. Kobell schuf im Auftrag des bayerischen Kronprinzen Ludwig, dem späteren König Ludwig I. von Bayern (1786–1868), zwölf großformatige Darstellungen der Kämpfe während der napoleonischen Kriege.
Wilhelm von Kobell, Die Belagerung von Cosel, 1808; München, Neue Pinakothek
Gerade Die Belagerung von Cosel ist für die klassische Art der Schlachtendarstellungen kennzeichnend: Der eigentliche, verlustreiche Kampf der bayerischen und württembergischen gegen die preußischen Truppen geschieht in jenem Bereich des Bilds, der weit vom Betrachter entfernt und zudem im Schatten liegt, so dass keine Einzelheiten des Kampfgeschehens erkennbar sind. Die morgendliche, flach stehende Sonne wie die Anordnung auf einer Anhöhe im Bildvordergrund inszeniert stattdessen den Stab der bayerischen Armee, der fern der Schlacht, malerisch drapiert und wohlgeordnet im Gestus von Spazierreitern das Geschehen aus der Ferne überblickt. Der Betrachter ist noch ein wenig weiter entfernt, sieht aus der Distanz selbst auf die Gruppe der Reiter hinab, gottähnlich und bestens positioniert für den Genuss des frühmorgendlichen Spektakels.
Goya dagegen wählte für die Darstellung des Kriegs ganz andere künstlerische Mittel
Francisco José de Goya y Lycientes, Esto es peor („Dies ist schlimmer“); aus der Serie Desastres de la Guerra („Schrecken des Kriegs“), Nr. 37, zwischen 1808 und 1814; Madrid, Prado
Das beginnt bei der Technik, der Radierung, die nur wenige Nuancierungen zulässt und bei der – beinahe schmerzlich – jeder einzelne, in die Platte geritzte Strich sichtbar wird. Darüber hinaus wählt Goya andere Motive: nicht den heroischen Feldherrn im warmen Licht der Morgensonne, sondern die verstümmelten Körper von Soldaten und vor allem Zivilisten, die von den siegreichen Soldaten auf grausamste Weise abgeschlachtet und geplündert werden. Bildausschnitt, Komposition, Lichtführung – Krieg wird hier nicht etwa romantisiert und idealisiert, stattdessen lenken die künstlerischen Mittel den Blick des Betrachters auf das Thema der Grausamkeit des Kriegs.
Was Goya ganz anders macht als Kobell und warum seine graphische Serie im Gegensatz zu den großen Ölbildern als ‚modern‘ bezeichnet werden kann, ist, dass er sich statt um eine idealisierende um eine authentische Darstellung bemüht bis hin zum bewussten Verstoß gegen akademische Regeln der Kunst. Goya selbst hat die Grausamkeit des Kriegs erlebt und versucht, diesem subjektiven und individuellen Erleben in seinen Bildern einen angemessenen Ausdruck zu verleihen.
Was dabei herauskommt, ist keine dokumentarische Widergabe des Schlachtengeschehens – das ist auch nicht die Aufgabe von Kunst, weder in der Moderne noch in früheren Zeiten. Selbst der Titel von Goyas Blatt – Esto es peor („Dies ist schlimmer“) – geht über eine erläuternde, damit objektivierende Beschreibung des Bildmotivs hinaus, fügt dem Bild stattdessen eine zusätzliche, weiterführende Bedeutung an. Dabei werden Fragen bewusst angeregt, ohne beantwortet zu werden: Was ist schlimmer? Schlimmer als was? Der Betrachter kann nur mutmaßen, dass Goya die auf die Schlacht folgenden Gräueltaten an den wehrlosen Zivilisten meint, die im Empfinden des Malers noch schlimmer sind als die Schlacht selbst.
Das Bild bleibt also offen, dient nicht mehr als abschließende Deutung von Wirklichkeit, sondern als Ausgangspunkt für Assoziationen, für die Imagination des Betrachters, der nicht länger der mehr oder weniger passive Empfänger von genau vorformulierten Botschaften ist, sondern der mobilisiert wird, aufgefordert, selbst nach Bedeutung, einer Bedeutung für sich selbst zu suchen. Ein modernes Bild ist, so könnte man daraus ableiten, kein in sich abgeschlossenes Vehikel mehr, kein Medium zur Übermittlung von Informationen oder klar definierten Appellen. Ein modernes Kunstwerk ist vielmehr Ausgangspunkt eines Prozesses, der durch die Kunst angestoßen wird und sich im Betrachter fortsetzt. Es ist nicht viel mehr als eine Spur, die sich lesen lässt, Rückschlüsse erlaubt, jedoch niemals eindeutig ist. Eine Spur aktiviert die Sinne des Ahnens, Fühlens, Schmeckens: Tatsächlich scheint das „Wittern und Spüren“, von dem Gottfried Boehm gelegentlich spricht (Anm. 3), genau jenen komplexen Vorgang des diffusen Erkennens und Erahnens zu beschreiben, der nicht nur Kognition, sondern auch Sensation und Suggestion mit einbezieht und der konstitutiv ist für den Umgang des Betrachters mit der Kunst der Moderne.
Was also macht moderne Kunst zu moderner Kunst?
Welche Merkmale also weist moderne Kunst auf, die sich so sehr von denjenigen vor-moderner Kunst unterscheiden, dass man von einer Epochenschwelle sprechen kann?
Eines soll an dieser Stelle eigens betont werden: Der Begriff ‚Moderne‘, wie wir ihn hier verwenden, meint nicht in erster Linie eine Zeitspanne, die mehr oder weniger genau einzugrenzen wäre. ‚Modern‘ meint vielmehr eine Eigenschaft, vielmehr: ein Konglomerat von Eigenschaften, das Kunst auszeichnen kann. Entsprechend ist nicht jede Kunst im 19. Jahrhundert in diesem Sinn ‚modern‘. Die Spätwerke Meissoniers (1815–1891) und Franz Xaver Winterhalters (1805–1873) (Anm. 4)
beispielsweise, zweier von der zeitgenössischen Kritik als ‚führende‘ Maler des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts gefeierte Künstler, sind definitiv nicht ‚modern‘. Ihnen fehlen, obwohl sie zeitgleich mit Courbet, Cézanne, Manet und anderen arbeiteten, die charakteristischen Besonderheiten moderner Kunst. Dagegen gibt es auch aus früheren Epochen Werke oder Künstler, die wegen ihrer Eigenschaften durchaus als ‚modern‘ gelten können. So erlebte der bis dahin vergessene spanische Maler El Greco (1541–1614) gerade aus diesem Grund kurz nach 1900 eine Renaissance, die bis heute andauert.
Innerhalb der Kunstwissenschaft ist man sich seit längerer Zeit weitgehend einig, dass sich moderne Kunst im Allgemeinen auszeichnet durch folgende Merkmale:
Subjektivität
Nach dem Zusammenbrechen des verbindlichen, christlichen Weltbilds im Zuge der Aufklärung ist der Mensch auf sich selbst gestellt, wenn es darum geht, die wichtigen Fragen des Lebens zu beantworten. Wer sich seines eigenen Verstands bedient, wie Kant es gefordert hatte, für den gibt es keine objektiven Antworten mehr.
Entsprechend ist der moderne Künstler nicht mehr Prophet einer höheren Macht, beauftragt von deren irdischen Vertretern. Stattdessen ist seine Stimme eine Stimme unter vielen, vielleicht eine besonders sensible, aber doch ohne den traditionellen Anspruch auf letztgültige Wahrheit. Sie ist ebenso subjektiv, wie jede andere Stimme. Infolgedessen verwendet der moderne Künstler Gegenstände oder Motive, wie beispielsweise die Landschaft, nur noch als Ausdruck seiner persönlichen Überzeugungen und seines individuellen Gefühls. – In der Geschichte der Kunst ist dies wahrhaftig ein Neubeginn, der die ‚Epochenschwelle‘ von der Neuzeit zur Moderne rechtfertigt.
Originalität
Der moderne Künstler schafft außerdem seine nun subjektiven Werke, möglichst ohne auf unmittelbare Vorbilder und Traditionen zurückzugreifen. Auch diese Eigenschaft ist neu innerhalb der abendländischen Geistesgeschichte, in der die Rechtfertigung des Neuen gewöhnlich durch den Rückgriff auf Vorbilder aus der Vergangenheit geschah.
Der Referenz auf die Tradition in der Zeit vor dem Beginn der Moderne steht nun die Einbildungskraft, die eigenständige Erfindung des Künstlers gegenüber. Charles Baudelaire (1821–1867) setzte der „industriebürgerlichen Dumpfheit“, welche Kunst weitgehend nach handwerklichen Kriterien, nach der Vollkommenheit der Mimesis beurteilt hatte, ausdrücklich die Phantasie als „schöpferisches Gegengewicht zur Realität“ entgegen. (Anm. 5)
Der Bedeutung der Originalität für die Kunst der Moderne ist es hauptsächlich zu verdanken, dass die Epoche keinen verbindlichen Stil mehr kennt. Selbst Künstlervereinigungen wie der Blaue Reiter oder Die Brücke werden nicht mehr durch eine einheitliche Formensprache gekennzeichnet. Stattdessen muss jeder Künstler ihm eigene, künstlerische Formen finden und auf diese Weise seinen eigenen, persönlichen Stil entwickeln.
Individualität
Es ist nicht allein die Tradition als Inspirationsquelle, auf die der moderne Künstler verzichtet. Er verzichtet ebenso auf die allzu enge Anlehnung an das Schaffen seiner gleichzeitig arbeitenden Kollegen. Was einst gang und gäbe war, gilt von nun an als schöpferische Schwäche. Schließlich sei, so schreibt Baudelaire, in der Dichtung und der Kunst
„jede Blüte spontan, individuell […].“ Der Künstler „ist nur sich selbst verantwortlich. Er stirbt kinderlos. Er ist sein eigener König, sein Priester und sein Gott." (Anm. 6)
Der Künstler kann sich folglich nur auf sich selbst berufen, darf nur sich selbst vertrauen, muss sich, obwohl ein aufmerksamer, sensibler und vorausahnender Beobachter seiner Zeit, gegen andere, künstlerische Einflüsse geradezu abschotten. Sie wären seinem eigenen Ausdruck fremd, würden ihn der Originalität und der Individualität berauben, die der Wahrhaftigkeit entspringt.
Authentizität
Der moderne Künstler wird von Baudelaire als Beobachter beschrieben, der das, was um ihn her geschieht, in künstlerische Formen bringt.
„Es geht für ihn darum, dem Vorübergehenden das Bleibende zu entnehmen, aus der Mode das ans Licht zu fördern, was sie an Poetischem innerhalb des Historischen enthalten kann." (Anm. 7)
Die künstlerischen Mittel, die dieser Beobachter wählt, müssen dem Wesen, der ‚Substanz‘ der Dinge entsprechen, dürfen dagegen nicht zu sehr der äußeren Erscheinung verpflichtet sein. Der englische Maler und Kunstkritiker John Ruskin (1819–1900) setzt in diesem Zusammenhang – und das ist wirklich ein revolutionärer Akt – die alten, an akademischen Regeln orientierten Maßstäbe zur Beurteilung von Kunst außer Kraft und verpflichtet den Künstler von nun an darauf, mit Hilfe seiner Erfindungs- und Einbildungskraft jene künstlerischen Formen zu finden, die die erwähnte Substanz der Dinge am besten zu verdeutlichen in der Lage sind, unabhängig davon, ob der Maler dafür die Formen (und die Farben), die er der Natur entnimmt, verändern muss. Die spezifische Begabung des modernen Malers liegt für Ruskin gerade in der Auflösung und Neuordnung der äußerlich sichtbaren Formen. – Übrigens bezieht sich Ruskin bei seinen Beobachtungen häufig auf den englischen Maler William Turner (1775–1851), der gemeinhin zu den Romantikern gezählt wird, mit seinen Hauptwerken de facto aus dem Stil-Raster aber herausfällt, wodurch er, lange vor Cézanne, van Gogh und Gauguin, zu einem der wirklichen ‚Väter der Moderne‘ wird.
Offenheit
Neben Subjektivität, Originalität, Individualität und Authentizität tritt als fünftes Kennzeichen moderner Kunst die Offenheit.
Es hängt mit der nunmehr fehlenden, Objektivität beanspruchenden Weltdeutung zusammen, dass moderne Kunst offen ist für jeweils eigene Deutungen des Betrachters. Moderne Kunstwerke sind nicht mehr Medien zur Übermittlung genau festgelegter Botschaften, sondern Bühne oder Leerstelle, die der Betrachter mit seinen eigenen Assoziationen und seiner eigenen Deutung füllen muss. Angesichts eines modernen Kunstwerks ist der Betrachter nicht mehr nur passiver Rezipient, sondern aktiver Teilnehmer oder sogar ‚Betroffener‘, wie Max Imdahl ihn gelegentlich nannte.
Das lässt sich schon bei Caspar David Friedrich (1774–1840) beobachten.
Caspar David Friedrich, Morgen im Riesengebirge, 1810/11;
Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Nationalgalerie
Dessen häufig verwendete, religiöse Motive – allen voran das Kreuz – werden so sehr der individuellen Deutung freigegeben, dass es sich der Wissenschaftler bewusst „versagen“ muss, „den mit der Mehrsinnigkeit der Zeichen operierenden Kunstverstand auf einen ein-sinnigen Bedeutungscode einzuengen“, wie es Werner Hofmann formulierte. Stattdessen sei der Betrachter ausdrücklich „ermächtigt“, aus der Mehrdeutigkeit der Bilder „zu wählen“. Immerhin habe Friedrich „das vielleicht größte Verdienst des Künstlers“ darin gesehen, „‚geistig anzuregen und in dem Beschauer Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu erwecken, und wären sie auch nicht die seinen‘." (Anm. 9)
Goethe, dem diese Offenheit bekanntermaßen suspekt war, hat „wider Willen“ gerade diesen Aspekt der Modernität der Bilder Friedrichs erfasst, als er – wie immer unnachahmlich – äußerte:
„Die Bilder von Maler Friedrich können ebensogut auf den [sic] Kopf gesehen werden." (Anm. 10)
Wo Werke, die den Anspruch erheben, ‚Kunst‘ zu sein, diese Merkmale – Subjektivität, Originalität, Individualität, Authentizität und Offenheit – nicht aufweisen, sind sie nicht modern, und seien sie im 19. oder gar im 20. Jahrhundert entstanden. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie Kunst sind.
Dieser Text ist ein Auszug aus: Wie unendlich feinere Sinne muss ein Maler haben. Franz Marcs 'Tiger' (= einblicke. Kunstgeschichte in Einzelwerken 4), Freiburg i.Br./Norderstedt 2016, S. 16-24.
Anmerkungen
(1) Franz Marc, Brief vom 12.09.1914, zitiert nach: Günter Meissner (Hg), Franz Marc. Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, Leipzig/Weimar 1989, S. 102f.
(2) Vgl. Christof L. Diedrichs, Das Paradies bleibt verloren. Gauguins Südseebilder (= einblicke. Kunstgeschichte in Einzelwerken 2), Freiburg i.Br./Norderstedt 2015, S. 18–21.
(3) Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Darmstadt 2010, S. 147.
(4) Helga Kessler Arisch u.a. (Hgg), Franz Xaver Winterhalter. Maler im Auftrag Ihrer Majestät, Stuttgart u.a. 2015.
(5) Klaus Herding, Die Moderne: Begriff und Problem, in: Monika Wagner (Hg), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 175–196, hier S. 184. - Diesem Aufsatz sind die hier angeführten Kriterien moderner Kunst entnommen.
(6) Charles Baudelaire, Œuvres complètes. Hg. von Claude Pichois, Paris 1977, Bd. 2, S. 581.
(7) Baudelaire, zitiert nach Herding 1991 (wie Anm. 5), S. 188.
(8) Max Imdahl, Barnett Newman. ‚Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue III‘, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. Angeli Janhsen-Vukićecić, Frankfurt am Main 1996, S. 244–273, hier S. 265.
(9) Werner Hofmann, Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit, München 2007, S. 239.
(10) Zitiert nach Herding 1991 (wie Anm. 5), S. 183.