(Archiviert) In meinem Blog-Text vom 08. August (Was bedeutet 'Darstellung'?) habe ich in einer Randbemerkung das
erwähnt, was der Kardinal Niccolò Albergati (1373-1443) wohl sah, wenn er morgens in den Spiegel schaute.
Ich möchte diesen Gedanken noch ein Stückchen weiterführen und sogar eine weitergehende Behauptung aufstellen: dass wir nämlich keinerlei Möglichkeit haben, das zu überprüfen.
Um sich klarzumachen, wie ich auf eine solche Behauptung komme, ist es sinnvoll, sich zunächst einmal zu vergegenwärtigen, was wir eigentlich vor uns haben, wenn wir die Zeichnung des Kardinals
ansehen. Es handelt sich dabei nicht um eine Fotographie oder eine andere, auf technische Weise entstandene Abbildung des augenblickshaften, äußeren Erscheinungsbilds der dargestellten Person.
Stattdessen handelt es sich um eine von Menschenhand angefertigte Zeichnung.
Wie aber entsteht eine Zeichnung?
Indem ein Künstler - dessen handwerkliche Fähigkeit außer Frage steht - einen Stift zur Hand nimmt und das zeichnet, was er ...
ja: was?
Was genau zeichnet er?
Was er vor sich hat?
Sobald das Bild aber ein wenig komplizierter wird, wird diese Aufgabe schwieriger. Spätestens bei einem Bild von Jackson Pollock erscheint es uns gänzlich unmöglich.
Während wir bei Albers jedem einzelnen Element des Bilds noch einen 'Wert' zumessen konnten - bestehend aus Farbe, Größe und Position auf der Bildfläche -, ist eben dies bei den rein intuitiv,
willkürlich ausgeführten "Drippings" von Pollock vollkommen unmöglich. Was das 'digitale Gehirn' angesichts eines solchen Bilds noch vermag, ist für das menschliche Gehirn nicht mehr zu leisten.
Der Transformationsprozess ist dermaßen kompliziert, dass er allein von den Datenmengen her das menschliche Gehirn überfordert. Dabei entspricht das Pollock'sche Bild was die Menge und
(Un-)Systematik der Daten angeht sehr viel mehr der Realität, die wir jeden Augenblick um uns her wahrnehmen, als es ein Bild von Joseph Albers tut.
Wie also geht unser Gehirn mit diesen Datenmengen um? Wie verarbeitet es sie? Oder wieder zurück zu unserer Frage: Wie wird aus dem Bild, das auf der Netzhaut umgewandelt wird in elektrische
Signale, in unserem Bewusstsein wieder ein Bild?
Kurz gesagt: Das Gehirn interpretiert. Es wählt aus, was ihm wichtig erscheint, eliminiert, was nur nachgeordnet wichtig ist, und setzt nur so viele
Daten wieder zusammen, wie es eben verarbeiten kann und wie es ihm sinnvoll erscheint.
Wir können das bei der Schilderung einer plötzlich und sehr schnell verlaufenden Begebenheit wie beispielsweise einem Unfall eindrucksvoll nachvollziehen. Wenn 10 Personen den Unfall beobachtet
haben, werden sich alle 10 Personen auf unterschiedliche Weise erinnern, unterschiedliche Details schildern - und einen großen Teil davon falsch. Während der eine Beobachter darauf schwört, dass
das Auto rot gewesen sei, erinnert sich eine andere Person an das gleiche Auto als ein grünes. Das Gehirn hat in einem Sekundenbruchteil eine (über-)große Menge an Daten aufgenommen und während
die Person versucht, sich zu erinnern, ist das Gehirn fieberhaft damit beschäftigt, die zunächst unverbunden gebliebenen, elektronischen Reize wieder zu einem Bild zusammenzusetzen. Und dies
geschieht durchaus nicht immer richtig - wie aus Gerichtsverhandlungen mit Zeugenbefragungen inzwischen hinlänglich bekannt ist -, auch wenn die Personen subjektiv davon überzeugt sind, dass sich
der Unfall genau so abgespielt hat, wie sie ihn beschreiben, dass er kurz so war, wie sie ihn schildern.
Dies aber ist eben der entscheidende Irrtum. Der Beobachter verwechselt das Bild, das ihm sein Gehirn in seinem Kopf aus den blitzschnell übertragenen Daten - aufgrund seiner Erfahrungen und
Erwartungen - zusammensetzt, mit dem, was in der Realität vor seiner Netzhaut tatsächlich passiert ist, und übersieht dabei die Interpretationsleistung, die das Gehirn in dem Moment erbracht hat,
in dem es sich an den Hergang der Geschehnisse hat erinnern müssen.
Erinnerung aber heißt Interpretation. Und jedes Sehen ist eine Form der Erinnerung, denn strenggenommen ist das, was im Gehirn an Impulsen ankommt, Ergebnis eines Ereignisses, das sich
vorher ereignet hat, das also bereits vergangen ist, wenn die Impulse das Hirn erreichen.
Sehen ist also per se eine Form der Interpretation. Was in unserem Gehirn ankommt, ist, ohne dass wir es willentlich beeinflussen könnten, Ergebnis einer gleich zweifachen
Transformation: vom Netzhautbild in elektronische Impulse und von elektronischen Impulsen wieder zurück in ein Bild vor unserem inneren Auge.
Dies alles geschieht natürlich blitzschnell - aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass es richtig geschieht? Die sog. Farbenblindheit beispielsweise ist ein Zeichen dafür, dass
wenigstens einer der beiden Transformationsprozesse nicht zwangsläufig ist. Und wer will eigentlich entscheiden, wer richtig sieht: der, der etwas als rot, oder der, der es als
grün sieht?
Das heißt: Jedes 'Bild', das wir sehen - und wenn es der Blick auf meinen Schreibtisch ist, während ich diesen Text schreibe -, ist Ergebnis der Interpretation, die unser Gehirn
vornimmt, um die elektischen Signale, die durch den Sehnerv bei ihm ankommen, in ein Gesamtbild zurückverwandeln. Für diese Interpretation verwendet das Gehirn die Erfahrungen, die es bisher
gemacht hat und die ihm beispielsweise helfen, in der länglichen Form auf der rechten Seite der Tischplatte einen Stift zu erkennen, mit dem ich schreiben kann. Wenn es sich dabei um einen
Gegenstand handelt, den das Gehirn nicht kennt, wird es ihn erst untersuchen müssen, um Erfahrungswerte zu erhalten. Bis dahin wird es die elektrischen Signale aufgrund jener Erfahrungen
zu interpretieren versuchen, die es aus anderen Zusammenhängen kennt - und dabei möglicherweise in die Irre gehen.
Und genau so ging Jan van Eyck, vielmehr: sein Bewusstsein vor, als er den Kardinal, mit dem er sich aufgrund ihres gemeinsamen Berufs des Diplomaten vielleicht besonders gut verstand,
porträtieren sollte. Schon das Bild, das er vor seinem 'inneren Auge' hatte, unterschied sich von dem, was er tatsächlich in der Realität vor sich hatte, denn es war bereits Ergebnis der
Interpretation. Bei der Umwandlung in die Zeichnung geschah eine zweite Interpretation.