Wie Kunst betrachtet werden will

Text vom 19.11.2015

 

(Archiviert) "Bücher müssen mit soviel Überlegung und Behutsamkeit gelesen werden, als sie geschrieben wurden." (Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979/ 2004, S. 156)

 

Was der amerikanische Dichter Henry David Thoreau hier über Bücher sagt, gilt in gleichem Maße ebenso für Kunstwerke - auch wenn eine solche Sicht auf Kunst heute wenig populär ist:

 

Kunstwerke müssen mit soviel Überlegung und Behutsamkeit betrachtet werden, wie sie geschaffen wurden.

 

Denn sie wurden mit Überlegung geschaffen und haben es verdient, ebenso betrachtet zu werden.

 

 

Kommentare: 2

  • #1

    Alex Pippin (Freitag, 20 November 2015 14:27)

    Das ist ja ein weises Wort. Aber ist das auch möglich? Mancher Maler brauchte Jahre für sein Bild - die habe ich aber nicht. Und überhaupt: was sehe ich denn auf einem Bild, das nur weiß oder schwarz oder rot ist?

  • #2

    Christof L. Diedrichs (Donnerstag, 03 Dezember 2015 15:54)

    Lieber Herr Pippin,
    herzlichen Dank für Ihren konstruktiven Hinweis. Selbstverständlich haben Sie recht, dass man ein Bild nicht wirklich genau so lange ansehen kann, wie ein Maler gebraucht hat, um es zu malen. Andererseits ist das gängige Verhalten vor Bildern frappierend: Wissenschaftler haben beobachtet, dass ein Besucher vor einem Bild im Durchschnitt 10 Sekunden verbringt, und ich befürchte, dass er davon 7 Sekunden lang das Schild neben dem Bild liest. In den verbleibenden 3 Sekunden kann man vom Bild tatsächlich aber nicht mehr als einen sehr flüchtigen Eindruck gewinnen. Das wird meiner Meinung nach einem Bild nicht gerecht, für das der Maler Monate oder gar Jahre gebraucht hat.
    Und Ihr zweiter Hinweis: Auf einem so genannten monochromen Bild geht es gewöhnlich nicht um das Sehen im Sinne von Erkennen. Sie sprechen damit einen äußerst interessanten Punkt an, den ich schon im dritten Band der Reihe eigens thematisieren werde. Hier wird es nämlich um die 'inneren' Bilder gehen, die ein Bild im Sinne einer Kontemplation im Menschen hervorruft.
    Nochmals herzlichen Dank für Ihren kritischen Kommentar!


Warum Kunst?

Text vom 21.11.2015

 

(Archiviert) Angesichts einer ungewohnten Fülle erschütternder Ereignisse in der Weltgeschichte wie der jüngsten Attentate in Paris, aber auch der anhaltenden Konflikte in der Ukraine, in Syrien und in Afrika und der daraus resultierenden Ströme flüchtender Menschen stellt sich die Frage: Warum eigentlich Kunst? Gibt es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres, mit dem wir uns beschäftigen sollten, als ausgerechnet Kunst? Ist es nicht egozentrisch und ignorant, ins Museum oder in Ausstellungen zu gehen, schöne Bilder anzusehen und schöngeistige Diskussionen zu führen, während anderswo Menschen sterben oder um ihr Überleben kämpfen müssen?

 

Die Antwort auf diese Frage kann eigentlich sehr kurz ausfallen, es braucht dazu keine kunsttheoretische Diskussion, wenn überhaupt, dann eher eine anthropologische oder psychologische: Kunst ist eines der wirksamsten Mittel, mit denen wir unser Inneres - unseren Geist und unser Gemüt, unser Empfindungs- und Einfühlungsvermögen, unsere Art zu denken und zu fühlen - pflegen können. Und es tut gut, sich einzugestehen, dass wir es nötig haben! Ja, all die in jüngster Zeit aufflammenden Konflikte zeigen sogar, wie sehr wir es nötig haben.

 

Die fahrlässige Vernachlässigung unseres 'Innenlebens' ist kein neuartiges Phänomen. Schon seit geraumer Zeit wird sie von feinfühligen Menschen angeprangert. So ist schon in einem 1852 erschienen Buch zu lesen: "Wir verwenden fast auf jeden Gegenstand unserer körperlichen Ernährung oder Pflege mehr als auf unsere geistige Nahrung." Damit legt der Autor den Finger genau auf den wunden Punkt: Auch in unserer Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts ist es möglich, dass jemand mit 16 oder 19 Jahren die Schule verlässt und nie wieder etwas für seine 'geistige Nahrung', oder anders formuliert: für die Pflege und Weiterentwicklung seines Geists, seines 'Innenlebens' tut. Er wird im Laufe seines Lebens auf viele Dinge unendlich viel Energie, Geduld und finanzielle Mittel verwenden - auf den Bau und den Erhalt eines Hauses, auf Ernährung, Kleidung und die Gesundheit seines Körpers, auf die Pflege seines Autos, auf eine Computerausstattung und den Konsum von Unterhaltungsmedien -, aber möglicherweise tut er nie wieder bewusst etwas zur Pflege seines Geists, so dass sich dieser nach einiger Zeit in einem "traurig verwahrlosten Zustand" befindet, wie es in dem Buch von 1852 weiter heißt. Denn auch die Seele leidet, wenn sie nicht gepflegt wird, ganz so, wie es ein Haus oder ein Auto tut, das immer nur benutzt, niemals aber gepflegt und instandgesetzt wird. Der Unterschied besteht darin, dass wir die Verwahrlosung von Haus und Auto sehen, während die unseres Geists und Gemüts dem äußerlichen Blick verborgen bleibt. Wir erkennen sie nur indirekt, wenn wir beispielsweise Aggression, Ignoranz, Intoleranz, Herrschsucht, Egozentrik bemerken.

 

Die Kunst ist eines der wirksamsten Mittel zur Pflege unseres Geists und unserer Seele. Sie fördert die Sensibilität, die Bereitschaft zum Fragen und zum genauen Hinhören, den Wunsch sich einzufühlen und sich ein Urteil erst langsam entwickeln zu lassen, statt im ersten Augenschein bereits zu einer festen Meinung zu kommen, die sich nicht mehr revidieren lässt. Weil Kunst dies tut, musste sie früher einmal notwendigerweise schön sein. Die Schönheit sollte den Menschen besser machen, so lautete der 'Sinn' der Kunst didaktisch formuliert. Heute arbeitet Kunst auch mit dem Hässlichen und dem Schockierenden, aber es geht noch immer darum, den Menschen aus seiner lethargisch-passiven Konsumhaltung herauszuholen und seine inneren Kräfte zu aktivieren, und seien es die des Widerspruchs. Kunst belebt!

 

In der Konsequenz kann das beispielsweise heißen: Wir bräuchten weniger Psychotherapien, wenn wir uns mehr mit Kunst beschäftigen würden. Und mit Blick auf die 'Flüchtlingsströme' heißt es außerdem: Kunst macht sensibler für die Menschen und ihre Nöte. Sie macht uns offener für das Leid der anderen und weckt gelegentlich sogar die Leidenschaft, nach Möglichkeiten zu suchen, ihnen zu helfen - hier in Europa oder in den Heimatländern der Flüchtlinge. In diesem Sinn brauchen wir die Kunst so nötig, wie das tägliche Brot.

 

 

Anmerkung:

Die Zitate "Wir verwenden ..." und "in einem traurig verwahrlosten Zustand" stammen aus: Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979/2004, S. 166f.

 


Was ist Kunst? - Ist das Kunst, wenn Tausende von Menschen davon begeistert sind?

Text vom 04.02.2016

 

(Archiviert) Vom 28. November 2015 bis zum 20. März 2016 bietet das Augustinermuseum in Freiburg i. Br. die Möglichkeit, einen Maler kennenzulernen, der der Museumshomepage zufolge "der wohl bekannteste Porträtmaler Europas im 19. Jahrhundert" war, der aber in der Kunstwelt bis zum heutigen Tag fast vollkommen vergessen ist.

Angesichts der Ausstellung, in der mit bewunderungswürdigem Fleiß "bedeutende Leihgaben" aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden, drängt sich die Frage geradezu auf, warum dieser zu seinen Lebzeiten so berühmte Maler, der an nahezu allen Höfen Europas ein und aus ging und Hunderte von Werken hinterlassen hat, so vollkommen in der Versenkung verschwunden ist. Ist denn das, was er Zeit seines Lebens gemalt hat, etwa keine Kunst? Oder ist es nur die Ignoranz der nachfolgenden Generationen, die den Maler in Vergessenheit hat geraten lassen?

 

Abbildung 1: Franz Xaver Winterhalter, Kaiserin Eugénie im Kreis ihrer Hofdamen, 1855; Compiègne, Musée National).

 

Was Kunst eigentlich ist, definiert jede Zeit anders. Ob ein Bild tatsächlich 'Kunst' ist, kann also nur bedacht werden, wenn zuvor geklärt wurde, was die entsprechende Zeit unter Kunst verstanden hat.

Im Umkehrschluss heißt das im Übrigen auch, dass aus der historischen Distanz etwas für Kunst gehalten werden kann, das die Zeit selbst nicht als Kunst ansah, und dass das, was innerhalb einer Zeit als große Kunst gilt, in der Sicht der Nachwelt keine Kunst mehr sein muss.

 

Um ein Beispiel zu nennen: Als Franz Xaver Winterhalter 1855 die Kaiserin Eugénie im Kreis ihrer Hofdamen malte (Abbildung 1), waren die Menschen, die das Bild ansahen, begeistert und urteilten, dieses wie andere Bilder des berühmten Malers stellten kaum jemals erreichte Höhepunkte der abendländischen Kunstgeschichte dar. Das fast zeitgleich entstandene Frühstück im Freien dagegen, das Édouard Manet (1832-1883) ebenfalls im "Salon" in Paris ausstellte (Abbildung 2), galt den allermeisten Betrachtern als "Kleckserei", vor der sich die Ausstellungsbesucher vor Lachen die Bäuche hielten. Es schien in ihren Augen nicht einmal fertiggestellt zu sein, denn die Details waren nicht richtig ausgearbeitet - längst nicht so jedenfalls, wie Winterhalter es in seinem Bild der Kaiserin Eugénie (Abb. 1) getan hatte, was sozusagen das Korrektiv, das Maß für die Beurteilung der übrigen Kunstwerke darstellte.

 

Abb. 2: Édouard Manet, Picknick im Freien, 1863; Paris, Louvre

 

Damalige und heutige Sicht auf 'Kunst'

 

Das eigentlich Interessante daran ist, dass Winterhalter heute vergessen ist, während Manet, der einstige "Farbkleckser", es ist, der inzwischen als einer der Wegbereiter der Moderne in der Kunst gefeiert wird.

 

Um diesen Vorgang zu verstehen, müssen wir uns klarmachen, dass das Publikum in den 1850er und 1860er Jahren vor allem Werke wie die Winterhalters oder wie die des ebenfalls heute weitgehend vergessenen französischen Malers Ernest Meissonier (1815-1891) sahen. An ihnen bildete sich ihr Geschmack und ihre Gewohnheit, Kunst zu betrachten - was in der Regel 'mit der Nase auf dem Bild' geschah. Man begeisterte sich für die Fähigkeit eines Malers, Details möglichst genau und wirklichkeitsgetreu abzubilden. Das entschied über einen 'guten' Maler oder einen 'Farbkleckser'. Noch heute kann man diese Beurteilung von Kunst antreffen, wenn wir einen Betrachter vor einem postmodernen Kunstwerk sagen hören, dass er selbst oder seine kleine Tochter das auch gekonnt hätte. Oder wir sehen, wie sich die Ausstellungsbesucher vor Winterhalters Bildern darüber begeistern, wie gut Winterhalter die verschiendenen Stoffe der Frauenroben wiedergeben konnte. Genau das taten die Ausstellungsbesucher im 19. Jahrhundert auch. Keinem von ihnen fiel auf, dass sie sich dabei nicht mit 'Kunst', sondern mit der Maltechnik, also mit dem 'Handwerk' der Malerei beschäftigten. Jedenfalls würden wir das heute so sehen.

 

Abb. 3:
Franz Xaver Winterhalter, Il dolce Farniente, 1836; Privatbesitz

Als Winterhalter seine Karriere in den 1830er Jahren begann, war das noch ein wenig anders. Während er mit seinen Malerkollegen durch Italien reiste und römische Landschaften und Szenen des italienischen Landlebens malte (vgl. Abbildung 3), befand er sich sozusagen auf der Höhe der künstlerischen Entwicklung. Er malte romantisch bzw. klassizistisch, ließ sich von seiner Begeisterung für das arkadische Leben in den klassischen Landschaften treiben und nutzte seine hervorragenden, technischen Möglichkeiten, um diesem Gefühl Ausdruck zu geben. Und das war der entscheidende Punkt: Er gab der Sehnsucht und der Begeisterung seiner Zeit einen authentischen Ausdruck, indem er seine überragende Technik entsprechend nutzte.

 

Zwanzig Jahre später aber (vgl. Abbildung 1) hatte er einen Stil entwickelt, der nur noch eines tat: Der Sehnsucht der herrschenden Schicht nach einem prunkvollen, märchenhaften Leben Ausdruck zu geben, das sich zudem eher in Formen des Barock oder des Rokoko ausdrückte als nach angemessenen, zeitgenössischen künstlerischen Formen zu suchen. Wer genau hinsieht, den werden Bilder wie das der Kaiserin Eugénie im Kreis ihrer Hofdamen eher an Bilder von Antoine Watteau (1684-1721), an Bilder also des 17. und frühen 18. Jahrhunderts erinnern, als dass sie Ausdruck des Lebensgefühls des industriellen Zeitalters im 19. Jahrhundert wären. Während Winterhalter diese Scheinwelt schuf und den Reichen und (nicht immer ganz so) Schönen schmeichelte, malte beispielsweise Gustave Courbet (1819-1877) Arbeiter, die in zerrissenen Kleidern und der prallen Sonne mühsam Steine klopfen müssen (Abbildung 4), oder Teilnehmer eines Begräbnisses in speckigen Sonntagsröcken und mit schnapsgeröteten Nasen (Begräbnis in Ornans, 1849-50; Paris Musée d'Orsay). Nicht umsonst nennt man Courbets Malerei 'Realismus', ihr liegt eine sozialkritische Sicht auf die Gesellschaft zugrunde.

Abb. 4: Gustave Courbet, Die Steineklopfer, 1849; Dresden, Gemäldegalerie

 

In diesen Bildern Courbets kommt mehr von der Zeit und ihrem Selbstgefühl zum Ausdruck als in den märchenhaften Szenen, die Winterhalter für die Ahnengalerien und Salons europäischer Höfe malte, auch wenn Künstler wie Courbet, Manet, Cézanne, Monet, van Gogh und Gauguin zu ihrer Zeit nicht einmal für jene Ausstellungen zugelassen wurden, in denen die 'offizielle' Kunst gezeigt wurde.

 

Was ist - moderne - Kunst?

Die Kunstwissenschaft hat schon vor einer Reihe von Jahren einen kleinen Katalog von Kriterien erarbeitet, mit deren Hilfe zu beurteilen ist, ob aus heutiger Sicht etwas zur modernen Kunst zu zählen ist oder nicht. Zu diesen Kriterien gehören beispielsweise

  • Originalität - es gehört zur Vorstellung eines modernen Kunstwerks hinzu, dass es möglichst neuartig und eigenständig ist -,
  • Subjektivität - ein modernes Kunstwerk drückt in der Regel die subjektive Sichtweise des Künstlers aus, nicht zuletzt da es seit der Aufklärung eine objektive Sicht auf die Welt nicht mehr gibt, der Anspruch auf Objektivität also Hybris oder Ignoranz wäre -
  • und Authentizität - ein modernes Kunstwerk muss, damit wir als Betrachter es ernst nehmen können, authentisch in seinem Ausdruck des Lebensgefühls einer Zeit sein; dies ist einer der Hauptgründe dafür, dass wir beispielsweise historistische bzw. eklektizistische Kunstrichtungen heute nicht mehr als ernstzunehmende Kunst akzeptieren können.

 

Ist Winterhalters Kunst moderne Kunst?

Doch zurück zu Winterhalter - was sollen wir also nun mit ihm anfangen? Immerhin gibt es keinen Zweifel daran, dass er die Ausstellungsbesucher und vor allem -innen begeistert.

 

Tatsächlich begeistert er sie mit etwas, das innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte eher das 15., 16. oder 17. als das 19. Jahrhundert beschäftigt hat.

Im 15. Jahrhundert wurde in den Niederlanden von Malern wie Hubert und Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden die Technik der Ölmalerei zu einem absoluten Höhepunkt weiterentwickelt (Vasari bezeichnete Jan van Eyck sogar als deren Erfinder), der es ermöglichte, die sichtbare Wirklichkeit - man nannte sie 'die Natur', daher unser Begriff des "Naturalismus" (richtiger: "Wirklichkeitsnähe") - so genau wie niemals zuvor abzubilden. Selbst ein durch ein Stück Glas oder einen durchsichtigen Edelstein fallender Lichtstrahl wurde plötzlich darstellbar.

Und in Italien entwickelte zur gleichen Zeit der Architekt Filippo Brunelleschi die Regeln der Zentral- bzw. Fluchtpunktperspektive, mit deren Hilfe es möglich wurde, auf der zweidimensionalen Malfläche eine so faszinierende Illusion von Dreidimensionalität zu erzeugen, dass die Menschen zunächst an Teufelswerk dachten und schließlich in grenzenlose Begeisterung gerieten.

Der Kunsthistoriker Hans Belting hält für diese Zeit fest, dass "die Bedeutung der Begriffe Kunst und Handwerk" zu dieser Zeit "noch im Fluß" gewesen sei (Hans Belting, Spiegel der Welt, München 1994, S. 115). Das bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt noch als 'Kunst' galt, was heute, fast 600 Jahre später, zu trennen ist in etwas, das wir 'Kunst', und etwas, das wir 'Handwerk' nennen.

 

Diese Unterscheidung bietet uns gewissermaßen den Schlüssel, um das Werk Winterhalters verstehen und einordnen zu können. Und das führt zu der Feststellung, dass im Schaffen Winterhalters eine frühe und eine spätere Phase festzustellen ist.

 

Frühe Phase

In der frühen Phase, gewissermaßen seiner Jugend (vgl. Abbildung 3), ist Winterhalter künstlerisch 'auf der Höhe der Zeit'. Er nimmt aktiv an der Entwicklung der Kunstgeschichte teil, die sich in romantischen und klassizistischen Stilmerkmalen äußert. Zu diesem Zeitpunkt ist Winterhalter ein hochbegabter, technisch bestens ausgebildeter Künstler, selbst wenn sich Originalität und Individualität noch weiter entwickeln müssen, wenn er dauerhaft in die Reihe der 'modernen' Künstler aufgenommen werden will. Sein spezifischer Beitrag zur Kunstgeschichte steht zu diesem Zeitpunkt noch aus.

 

Späte Phase

Dann entdeckt Winterhalter offenbar, dass er mit Porträts sehr viel mehr Geld als mit Landschaftsbildern verdienen kann. Daraufhin verabschiedet er sich von der Suche nach einem authentischen Ausdruck der Zeit und entsprechend neuen künstlerischen Mitteln und überlässt diese Suche anderen Malern, deren Entwicklung er aus nächster Nähe beobachten kann, denn zu diesem Zeitpunkt lebt er überwiegend in Paris. Stattdessen übernimmt er Aufträge, deren wesentlicher Bestandteil es ist, den Reichen und Mächtigen, den Mitgliedern der herrschenden Oberschicht, zu schmeicheln. Er tut dies nicht nur, indem er vor allem Frauen schlanker und schöner darstellt, als sie in Wirklichkeit sind - das lässt sich anhand von Fotographien en détail nachweisen (Dank an die Ausstellungsmacher in Freiburg!) -, sondern auch, indem er künstlerische Mittel längst vergangener Kunst-Epochen wie beispielsweise des Barock und des Rokoko verwendet (vgl. Abb. 1).

Zudem perfektioniert er seine technischen Fertigkeiten in einer Weise, dass er beispielsweise Stoffe - Tüll, Gaze, Seide, Samt etc. - in geradezu verblüffender, wirklich faszinierender Weise darzustellen in der Lage war.

Indessen macht ihn dies nicht zu einem guten oder gar großen Künstler. Auf diesem Weg wird er lediglich zu einem virtuosen Handwerker. Denn die wirklichkeitsgetreue Abbildung der 'Natur' ist schon lange nicht mehr das Ziel der Kunst! Das ist es schon im Manierismus (spätes 16. Jahrhundert) nicht mehr. Da er indessen mit der detaillierten Darstellung von Kleidern und Stoffen wie der erwähnte Meissonier eben dies ins Zentrum seiner Malerei stellt, gilt für ihn tatsächlich, was gelegentlich von allen Malern dieser Zeit gesagt wurde: Seine Art der Kunst droht durch die Fotographie obsolet zu werden.

 

Allerdings konnte Winterhalter besser als die Fotographie den nicht immer wirklich schönen Frauen und gelegentlich auch den Männern schmeicheln. Und das war es, das die Reichen und Mächtigen dazu bewog, ihn zu protegieren - nicht aber seine Zugehörigkeit zu den jungen, avantgardistischen, 'modernen' Künstlern, die die Kunst längst in einer Weise weiterentwickelt hatten, dass Winterhalter mit ihnen nichts weiter mehr zu tun hatte, als dass auch er Pinsel, Farben und Leinwand verwendete - und dass er schnell arbeitete, denn auch das ist über seine Arbeit überliefert. Und daher ist es kein Wunder, dass er schon zur Zeit des deutsch-französischen Kriegs 1870/71 keine Aufträge mehr fand - die Zeit begann sich für andere künstlerische Mittel zu interessieren, originellere und authentischere. Winterhalter, der wegen seiner Affinität zu Frankreich in Deutschland auch aus politischen Gründen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gut angesehen war, galt nun endgültig als überholt.

 

Allein in Frankreich scheint er noch länger bekannt gewesen zu sein. Der Literaturwissenschaftler und Historiker Jürgen Glocker hat erst kürzlich darauf hingewiesen, dass Winterhalter noch in Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" ganz am Beginn des 20. Jahrhunderts begegnet, als handle es sich um "eine offenbar bekannte Größe, als eine kulturelle Instanz und Institution, die der Erläuterung und Kommentierung nicht bedarf." (Jürgen Glocker, Der Maler Franz Xaver Winterhalter, Heidelberg 2015, S. 69)

 

 

 

Kommentare: 1
  • #1

    Margarete Tosch-Schütt (Mittwoch, 02 März 2016 16:09)

    Ich gratuliere! Hier wird eine Position in der Kunstvermittlung vertreten, nach der ich Ausschau hielt und die ich ebenfalls versuche einzunehmen. Es geht um den interessierten Laien, der an Kunst mit bestimmten Bildungsansprüchen herangehen möchte – und durch diese belastet eventuell schon in der Begegnung mit der Klassischen Moderne Schiffbruch erleidet, erst recht In den Phasen folgender künstlerischer Arbeitsweisen.
    In den "Einblicken" hier werden übliche Erwartungen an Kunst thematisiert, ihre Berechtigung bestätigt oder relativiert – und dies nicht nur theoretisierend, sondern durch Fachwissen, das anschaulich bleibt, ohne Niveau zu verlieren nahe dem Laien und wohl auch einer bestimmten Altersgruppe. Auf diese Weise kann es gelingen Kunstinteressierten Zugangshürden abzubauen, Sichtweisen zu klären und ihre Neugier warm zu halten.