Würden wir diese Miniatur mit demselben Blick ansehen, mit dem der Katalog des Augustinermuseums die nahezu zeitgleich entstandenen Prophetenfiguren betrachtet und deutet - und wenn das bei dem einen legitim erscheint, müsste es das bei dem anderen ebenso erlaubt sein -, würden wir zu seltsamen Ergebnissen kommen. Oder wir müssten, wie das in der einschlägigen Forschung lange Zeit üblich war, uns tief in theologische Erwägungen, Debatten und Spekulationen vertiefen, bis wir eine Begründung für diese überraschende Beobachtung gefunden hätten - hier eignet sich immer ein Blick in die mystische Literatur, denn aus dieser lassen sich die ungewöhnlichsten Schlüsse ziehen; indessen aber wohl keine, die auf einigermaßen folgerichtige Weise das Lächeln der Heiligen unter dem Kreuz zufriedenstellend erklären würden.
Dabei liegt es viel näher, einen anderen Weg zu wählen: Statt verborgene Hintergründe zu vermuten oder dem Künstler gar Unvermögen oder einen Fehler zu unterstellen, können wir unser eigenes Sehen hinterfragen. Wir könnten hinterfragen, ob wir die Miniatur auf die richtige Art und Weise sehen und deuten.
Zugespitzt könnte die Frage lauten: Wenn die Heiligen auf der um 1300 entstandenen Miniatur lächeln, ist mit diesem "Lächeln" dann auch das verbunden und gemeint, was wir heutzutage mit einem Lächeln verbinden? Hat der Maler sie also bewusst lächelnd (und die Propheten bewusst düster) gezeigt, um damit auf jene Aussage des Lächelns (oder des düsteren Blicks) zu rekurrieren, die wir heute, 700 Jahre und mehrere Epochenschwellen später, damit verbinden?
Tatsächlich verstehen wir ein Lächeln als einen Hinweis auf die psychische Befindlichkeit des Lächelnden. Wir lesen es als eine Äußerung seines Innenlebens, die auf Wohlbefinden, Zufriedenheit, Sanftmut und Freundlichkeit schließen lässt. Ein Lächeln gewährt uns in unserem Verständnis einen Blick in die Seele eines Menschen, ist ein Zeichen seiner momentanen, psychischen Disposition.
Das Würzburger Kanonbild ist 700 Jahre alt. Angesichts dieses Alters und der historischen Distanz stellt sich die Frage, ob der mittelalterliche Künstler es gewohnt, es also üblich war, dass die Darstellung eines menschlichen Gesichts - also nicht das menschliche Gesicht selbst, das ihm auf der Straße begegnete - die seelische Befindlichkeit der dargestellten Figur abbildete. Bedeutete die Darstellung der Mimik, kurz gesagt, das gleiche, wie es die Mimik im 'wirklichen Leben' bedeutete? (Denn dass auch vor 700 Jahren das Lächeln eines Menschen auf der Straße auf eine positive Befindlichkeit schließen ließ, dürfte außer Zweifel stehen.)