(Archiviert) Albrecht Dürer (1471-1528) hat die Geschichte der Kunst bekanntermaßen in vielfacher Weise beeinflusst. Nicht in jedem Fall ist aus der historischen Distanz zu klären, ob er mit bestimmten Ansichten oder Taten wirklich der Allererste war. Da er aber beispielsweise viel geschrieben hat - Bücher, Abhandlungen, Briefe -, wird für uns Vieles in seinen Schriften zum erstenmal unmittelbar fassbar. Andererseits war Dürer zweifellos ein Mensch, der höchst eigenständig dachte und dessen 'Genie' ihn dazu befähigte, eigenständig und in neuen Bahnen zu denken. Gerade in dieser Hinsicht erscheint er uns als besonders faszinierend - und der Moderne ziemlich nahe (die sich ja gerade durch Originalität und die Ausrichtung auf das Neue auszeichnet).
Dürer stand in vielfacher Hinsicht an einer Schwelle. Am kompaktesten ist diese zu fassen, wenn wir von der "Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit" sprechen (selbst wenn dies zweifellos ein bisschen schwarz/weiß gedacht ist). Der Humanismus hat hier einen entscheidenden Beitrag geleistet, dem Dürer mit Leidenschaft anhing. Noch immer ist die Vielschichtigkeit dieser Schwelle nicht bis ins Letzte ausgelotet. Das Kunstwerk, in dem sie sich vielleicht am besten spiegelt, ist Dürers Selbstbildnis von 1500.
Albrecht Dürer, Sog. Selbstbildnis im Pelzrock, 1500; München, Alte Pinakothek
In der Sicht seiner Zeitgenossen enthielt dieses Bild so viel Zündstoff, dass Dürer es zeitlebens unter Verschluss hielt und es nur solchen Menschen zeigte, die geistig in der Lage waren, es in seiner Vielschichtigkeit und Tiefe zu verstehen.
Doch ein solcher Vorgang findet sich nicht nur bei einem profanen Werk wie diesem Selbstporträt. Selbst bei einem sakralen Werk wie dem Altar für die Dominikanerkirche in Frankfurt am Main, der von Jakob Heller (1460-1522) in Auftrag gegeben wurde, sind solche Tendenzen erkennbar.
Albrecht Dürer und Jobst Harrich, Heller-Altar, 1507-09; Frankfurt am Main, Historisches Museum Frankfurt
Ein Altarretabel, das in einer Kirche hinter dem eucharistischen Altar aufgestellt wird, richtet sich gewöhnlich in erster Linie an den Kirchenbesucher und soll seiner Meditation - vornehmlich der Eucharistie oder des Patrons der entsprechenden Kirche - dienen. Im Vordergrund stehen also theologische und/oder spirituelle Gedanken, die den Künstler leiten und vom Betrachter in seiner religiösen Versenkung bedacht werden sollen.
Umso erstaunlicher ist es, dass sich dies (mindestens) im Fall des Heller-Altars anders verhielt. Dürer brauchte für die Anfertigung so lange, dass der Auftraggeber, Jakob Heller, ungeduldig wurde und Dürer im März 1509 mahnte, den Altar fertigzustellen. Es ist Dürers Antwort, die überrascht: Zunächst beruhigt er Heller, dass er "stetig und streng an Euerm [Altar-]Blatt mal", so dass er darauf hoffe, es in kürze fertigzustellen. Dass er indessen so lange brauche, hänge damit zusammen, dass er ungewöhnlich viel Sorgfalt auf die Fertigstellung verwende. Und das werde man den Bildern auch ansehen. Denn er werde mit diesem Altarbild nicht etwa "ein Baurn-Tafel" malen, die für eine Dorfkirche ausreiche. Stattdessen - und nun kommt das aus unserer Sicht überraschende - denke er daran, dass sie
„von vielen Künstlern gesehen wird, die Euch vielleicht zu verstehen werden geben, ob sie meisterlich sei oder bös."
Dürer betont, dass er nicht nach dem Beifall jener strebe, die eine solche "Baurn-Tafel" erwarten.
"Darnach frag ich nit, mein Lob begehr ich allein unter den Verständigen zu haben.“
Die "Verständigen" aber sind jene, die in der Lage sind, die künstlerische Leistung hinter den Formen zu erkennen, die also nicht allein Motive identifizieren und nach deren Bedeutung fragen, um darin eine theologische Botschaft zu entschlüsseln, sondern die auch die "Kunst" der Tafel würdigen können.
In diesen Worten steckt gewissermaßen die Abkehr des neuzeitlichen Menschen von der mittelalterlichen Art der Kunstbetrachtung, vom mittelalterlichen Kunstverständnis überhaupt. Kunst macht einen Schritt hin zu einem Selbstverständnis, das sich aus einer Funktionalisierung und Indienstnahme löst und einen eigenen Wert erhält. Kunst tritt aus dem Status als Medium für die Meditation heraus und beginnt damit, sich in eigenständiger Weise an den Kenner zu wenden.
Dürer zeigt sich hier - ausgerechnet mit einer Altartafel, nicht etwa mit einem profanen Werk! - als einer der ersten Künstler, der sich ausdrücklich nicht in erster Linie an die Gläubigen wendet, sondern an den sachverständigen Kunstkenner. Dessen Anerkennung und Lob ist ihm den Ausführungen im Brief an Heller zufolge wichtiger als die Eignung seiner Werke als Meditationsvorlage.
Das lässt sich im Übrigen an vielen seiner Werke ablesen, so unter anderem an dem Kupferstich "Adam und Eva".
Albrecht Dürer, Adam und Eva (Der Sündenfall), 1504 (Kupferstich); Frankfurt am Main, Städel Museum, Graphische Sammlung
Bei diesem eigentlich durch und durch religiösen Werk - immerhin geht es inhaltlich dabei um die Frage, wie das Böse in die Welt kam - geht es Dürer mehr um die Demonstration antiker Proportionslehren als um theologische Themen wie Sünde, Tod und die Erlösung des Menschen.
Das bedeutet: Mit Dürer stehen wir buchstäblich an jener Schwelle innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte, an der das moderne Verständnis von Kunst geboren wird - einer Kunst, die sich aus der Indienstnahme des 'Mediums' befreien und einige Jahrhunderte später ihren Sinn einzig in sich selbst postulieren wird. Dürer ist dabei ganz offensichtlich einer ihrer Geburtshelfer, dessen Selbstverständnis seiner Zeit zwar weit voraus und damit keineswegs gesellschaftsfähig ist, das die Entwicklung der Kunst in den folgenden Jahrhunderten aber grundlegend prägen wird.
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Zitate: Brief Dürers an Jakob Heller, 21.03.1509; zitiert nach Albrecht Dürer, Schriften und Briefe. Hg. v. Ernst Ullmann, Leipzig 51989, S. 123f.