Wie sieht man Kunst 'richtig'? - Max Imdahls "Ikonik" (Teil 1)

Die Frage nach dem 'richtigen' Sehen von Kunst wird auch in der Kunstwissenschaft seit langem kontrovers diskutiert. Zu unterschiedlichen Zeiten ist die Aufmerksamkeit für die Frage unterschiedlich, immer ist sie auch abhängig von den Protagonisten der Debatte.

 

Einer der herausragendsten Protagonisten war der lange Zeit an der Ruhr-Universität Bochum tätige Kunsthistoriker und Maler Max Imdahl (1925-1988). Er steht innerhalb der deutschen Kunstgeschichte bis heute für eine bestimmte Herangehensweise an Kunst, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass sie eine besondere Sensibilität der Bildbetrachtung und -beschreibung programmatisch in die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk aufnimmt. Das hat es #Imdahl unter den Fachkollegen nicht immer leicht gemacht, hat aber zugleich zu einer regelrechten Schulenbildung beigetragen. Deren Schlagwort wurde der Begriff der "Augenarbeit", der damit zusammenhängende Terminus der "Ikonik" ist in die Kunstwissenschaft eingegangen und bis heute mit Imdahls Namen verknüpft.

 

Obwohl Imdahl sich mit der Kunst sämtlicher Epochen vom Frühmittelalter bis zum 20. Jahrhundert - der Gegenwartskunst zu Imdahls Lebzeiten - befasste, spielte in seiner gesamten Tätigkeit die gegenstandslose Kunst eine ganz besondere Rolle. Aus ihr entwickelte er die Methode der Ikonik.

 

Grundlage dieser Methodik ist der Wert, den Imdahl der Anschauung des Kunstwerks beimaß. Nicht bildexterne Erläuterungen, sondern bildimmanente Hinweise, die sich in der Struktur des Werks finden, sind innerhalb dieses Ansatzes für die Erfassung des Sinns konstitutiv. Damit stellt Imdahl zugleich einen Gegenentwurf zur von Erwin Panosky entwickelten ikonographisch-ikonologischen Methode dar, dergegenüber die Ikonik nicht von historischen Voraussetzungen, sondern vom Kunstwerk und seiner je individuellen 'Sprache' ausgeht. Gerade hierin wird die Herkunft der Methode aus der ungegenständlichen Kunst deutlich, offenbart damit zugleich aber auch, dass es eigentlich nicht um die schrittweise 'Entschlüsselung einer Sprache' geht - Sprache besteht in der Aneinanderreihung in ihrer Bedeutung weitgehend fest definierter Einzelelemente zu einem nahezu ähnlich festgelegten, neuen, übergreifenden Sinn -, sondern vielmehr um die Wahrnehmung von mehr oder weniger diffusen Ausdruckswerten, die Sinn vermitteln können, jedoch auf einem anderen Weg als dem der Dechiffrierung.

 

Als sein wissenschaftliches Hauptwerk - zugleich als eines der Hauptwerke der Kunstgeschichtsschreibung überhaupt - gilt bis heute seine Analyse der Giotto-Fresken in der Arena-Kapelle in Padua (bibliographische Angaben am Schluss).

Hier heißt es u.a.: "der Ikonik wird das Bild zugänglich als ein Phänomen, in welchem gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales, sehendes Sehen sich ineinander vermitteln zur Anschauung einer höheren, die praktische Seherfahrung [...] prinzipiell überbietenden Ordnung und Sinntotalität."

 

Die Ikonik als Interpretationsmethode historischer wie zeitgenössischer, nichtgegenständlicher Kunst zielt v.a. auf das Aufspüren bildimmanenter Sinnstrukturen, die sich einem "reinen Sehen" - von Imdahl 'sehendes Sehen' genannt - erschließen. Sie lehnt die Ergebnisse anderer Analyse-Methoden, allen voran der ikonographisch-ikonologischen, nicht grundsätzlich ab, sondern geht über sie ausdrücklich hinaus, indem sie sich nicht auf die Identifizierung des Gegenstädlichen - "wiedererkennendes Sehen" - beschränkt, sondern auch das in die Analyse einbezieht, was über reine Gegenständlichkeit hinausgeht, was man als das eigentlich Künstlerische des Kunstwerks bezeichnen könnte (während die Ikonologie das Kunstwerk im Grunde als ein historisches Dokument betrachtet).

 

Giotto di Bondone, Gefangennahme Christi, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle

 

Dass Imdahl sich in seinem wichtigsten Buch gerade mit den Fresken der Arenakapelle im Padua beschäftigt, hatte seinen Grund nicht zuletzt darin, dass sie ein besonders prominentes Beispiel der abendländischen Kunstgeschichte sind, an denen sich u.a. auch Panofskys Ikonologie ausgiebig abgearbeitet hatte. (Das Folgende nach dem unten angegebenen Aufsatz von 1979)

 

Tatsächlich wendet Imdahl selbst zunächst exemplarisch die drei Schritte der ikonographisch-ikonologischen Methode auf die Darstellung der Gefangennahme Christi in der Arenakapelle an, unter besonderer Berücksichtigung der dritten, der ikonologischen Stufe. Panofsky hatte die Art der compassio, des emotionalen Miterlebens und -erleidens des Betrachters durch einen Bezug auf die Meditationes vitae Christi des Pseudo-Bonaventura erklärt und damit im Grunde die Bilder zu einer Art Übersetzung dieses Texts in das auch dem Analphabeten verständliche Bildmedium erklärt. Die formalen Aspekte des Bilds dienen dabei ausschließlich der Identifizierbarkeit, der Wiedererkennung, die Gegenstand der Stufen 1 und 2 der Panofsky'schen Methode ist.

Imdahls Ikonik aber will darüber hinausgelangen (ohne - das sei noch einmal betont - Panofskys Analyseergebnisse für unwichtig und unnötig zu halten). Der "eigentliche Bildsinn", von dem schon Panofksy mit Blick auf die Ikonologie (Stufe 3) gesprochen hatte, gehe über die reine 'Übersetzungsleistung' (Text - Bild) hinaus.

 

In der folgenden Analyse der Bildstruktur (die Thema des nächsten Blog-Texts sein wird) untersucht Imdahl bildimmanente Aspekte wie Bewegungs- und Handlungsabläufe, Positionen, Blickrichtungen etc. Auf diese Weise wird gewissermaßen eine Binnenerzählung innerhalb des Bilds deutlich, die über die Meditationes vitae Christi weit hinausgeht.

 

Das wird noch deutlicher im Zusammenhang der Analyse der Darstellung der Kreuztragung Christi, deren Emotionalität ohne Vorbilder in den Meditationes ist.

Giotto di Bondone, Kreuztragung Christi, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle

Imdahl macht deutlich, dass Giotto, wenn er sich auch von den Texten des Pseudo-Bonaventura hat anregen lassen, sein eigenes Zeichenrepertoire entwickelt hat - nicht um zu übersetzen, sondern um dem Betrachter der Bilder einen eigenen, emotionalen Zugang zu den dargestellten, heilsgeschichtlichen Ereignissen zu ermöglichen. Dieser erschließt sich durch die konsequent formale Analyse, die Analyse also der vom Maler verwendeten künstlerischen Mittel im Dienst ikonischer Sinnverdichtung.

 

Wiederum exemplarisch analysiert Imdahl schließlich die Komposition der Darstellung der Auferweckung des Lazarus.

 

Giotto di Bondone, Auferweckung des Lazarus, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle

Der Ausdruck, so wird im Verlauf der Analyse deutlich, wird durch das spezifische Verhältnis von Figur und Bildfeld noch gesteigert.

 

Es liegt auf der Hand, dass sich die Ikonik nicht zuletzt für die Analyse zur Kunst des 20. Jahrhunderts in besonderer Weise eignet. Aber auch bei vormoderner und moderner Kunst erschließt sie jenen Aspekt, der beispielsweise in Panofskys Ikonologie weitgehend außen vor bleibt: den Aspekt des spezifisch Künstlerischen. Gerade dieser Gedanke des kaum bis ins Letzte in Worte zu fassenden Ausdrucks eines Kunstwerks, das sich eher dem "Wittern und Spüren", als zielgerichteter Analyse erschließt und damit über ein eindeutige Bildaussage hinausgeht, wird bis heute von Imdahls 'Schülern' und Nachfolgern weiterverfolgt, so beispielsweise von Angeli #Janhsen (Freiburg) und Gottfried #Boehm (Basel).

 

Wichtige, im Text erwähnte Literatur:

  • Max Imdahl, Giotto. Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München 1980.
  • Max Imdahl, Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur (1979), in: Angeli Janhsen-Vukicevic (Hg), Max Imdahl, Gesammelte Schriften 3, Frankfurt am Mai 1996, S. 424-463.

 

 

In den folgenden Blog-Texten werden wir uns weiter mit Max Imdahl und seiner 'Ikonik' beschäftigen.

 

Diedrichs liest Imdahl - Max Imdahls "Ikonik" (Teil 2)

Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos (1973), in: Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Bd. 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180-209.

 

"Das große Anliegen von Max Imdahl (1925-1988), der nach dem Krieg in Münster studierte und Mitte der 60er Jahre Ordinarius des Kunsthistorischen Instituts der neugegründeten Ruhr-Universität in Bochum wurde, war es, die zeitgenössische, nicht-gegenständliche Kunst der wissenschaftlichen Reflexion zuzuführen. Selbst ehemals als Künstler tätig, wandte er sich u.a. dem Orphismus, der Optical Art, dem Abstrakten Expressionismus und der sogenannten Konkreten Kunst zu. Solche Forschungsinteressen waren noch bis in die 80er Jahre durchaus nicht selbstverständlich."

So leiten Wolfgang #Brassat und Hubertus #Kohle in ihrem "Methoden-Reader Kunstgeschichte (Köln 2003, S. 77) jenen Abschnitt ein, der den hermeneutischen Ansatz der Ikonik beschreibt. (Als Imdahls 'Kern-Text' zur Ikonik folgt dann sein 1971 entstandener Text zu Barnett-Newmans "Who's Afraid of Red, Yellow and Blue III", der Gegenstand eines der nächsten Blog-Einträge sein wird.)

 

Doch hat #Imdahl nicht allein die (damals) zeitgenössische Kunst für die Wissenschaft zugänglich gemacht. Seine "Ikonik" genannte Herangehensweise stellt innerhalb der Kunstgeschichte den Versuch der Rückkehr zu einer Betrachungsweise von Kunst dar, die den Künstler und die von ihm verwendeten künstlerischen Mittel ernst nimmt im Sinne einer eigenständigen, künstlerischen Aussage statt, wie es die damals dominierende, #ikonographisch-ikonologische Methode propagierte, im Kunstwerk nichts weiter als ein historisches Dokument zu sehen, das in (meist theologischen) Texten niedergelegte Aussagen für Analphabeten veranschaulichend 'übersetzen' sollte. Statt im Bild nur wiederzuerkennen, was der angeblich zugrundeliegende Text sagt, lenkt die Ikonik den Blick auf bildimmanente Strukturen und Strategien, die dem aufmerksamen, sensibilisierten Betrachter zu einem weniger theoretisierend-intellektuellen, als vielmehr zu einem 'sehenden', imaginativen und emotionalisierten Zugang verhelfen.

Diesen bewussten Schritt über die Methode Erwin #Panofskys hinaus hat Imdahl vor allem in seinen verschiedenen Texten zu den so genannten Arenafresken in Padua thematisiert und vorgefürt, angefangen bei seiner großen Studie zu "Giotto[s] Arenafresken" (bibliographische Angaben unten) bis zu einer Reihe von Vorträgen und Aufsätzen, die sich immer wieder mit den Fresken beschäftigen.

 

In den von Angeli #Janhsen-Vukicevic, Gundolf #Winter und Gottfried #Boehm 1996 herausgegebenen "Gesammelten Schriften" Imdahls finden sich zwei Aufsätze zu den Fresken.

"Narrative Strukturen" bzw. die bildliche Erzählweise (1973) bezeichnen gewissermaßen das Kernargument jener Fraktion von Kunsthistorikern, die in Bildern nichts weiter sehen als die "Literatur für Analphabeten".

 

Exkurs: "Bilder sind die Literatur der Analphabeten"

Zu dieser weit verbreiteten These, die bis heute immer erneut wiederholt wird, eine kurze Richtigstellung:

Die Vorstellung, dass Bilder die Literatur für diejenigen seien, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind, geht auf einen Ausspruch des Papstes #Gregor der Große (+ 604) zurück.

Gregor war in vielen Belangen der Kultur- und Kirchengeschichte des Abendlands aktiv und hat sie nachhaltig beeinflusst (noch heute trägt beispielsweise der Gregorianische Choral [nicht der Gregorianische Kalender] seinen Namen). Als er allerdings seinen berühmten Ausspruch tat, die Malerei - also Bilder - sei die Literatur der Analphabeten (pictura litteratura laicorum; in: Registrum epistolarum, XI, 10; Corpus Christianorum Series Latina, Bd. 140A, Sp. 873-876), da sprach er über die europäische Gesellschaft des späten 6. Jahrhunderts, die noch ganz am Beginn ihrer Christianisierung und zudem an einer kulturgeschichtlichen Epochenschwelle stand. Zweifellos traf es in dieser Situation zu, dass viele Menschen nicht lesen und schreiben konnten und dass die biblischen Geschichten des Alten wie des (eben erst kanonisierten) Neuen Testaments noch nicht allgemein bekannt waren.

Als indessen #Giotto zwischen 1304 und 1306 die von Enrico #Scrovegni gestiftete Kapelle auf dem Areal einer römischen Arena in Padua mit Szenen aus dem Leben Jesu und der Gottesmutter Maria ausmalte, war die Christianisierung Europas - und vor allem Italiens - längst abgeschlossen und man darf getrost davon ausgehen, dass die Besucher der Kapelle, die Giottos Bilder betrachteten, mit den Geschichten wesentlich vertrauter waren, als wir es heute sind. Eine 'Übersetzung' der biblischen Texte in Bilder war nun also gänzlich überflüssig - der Ausspruch Gregors des Großen hatte spätestens zu diesem Zeitpunkt seine Berechtigung verloren. Die Funktion der Bilder muss stattdessen in einem ganz anderen Bereich gesucht werden. (Im Übrigen hätten die Bilder ihre Bedeutung ohnehin verloren, sobald die Betrachter die Geschichten verstanden hatten; dafür aber dürfte einem Bankier und Kaufmann wie Enrico Scrovegni der damals bereits hochberühmte Giotto di Bondone [1266-1337] entschieden zu teuer gewesen sein).

 

Sog. Arena- oder Scrovegnikapelle (Capella degli Scrovegni), 1302-1305; Padua

 

Die Nacherzählung von biblischen Geschichten war also nicht die Absicht Giottos, als er die Arbeit in Scrovegnis Kapelle begann. Seine Erzählweise muss stattdessen auf etwas anderes abgezielt haben. Von daher macht es sehr viel mehr Sinn, sich mit dieser Erzählweise eingehend zu beschäftigen, als beispielsweise die ikonographisch-ikonologische Methode annimmt. Stattdessen hebt Imdahl gleich zu Beginn seines Aufsatzes "Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos" (1973) als Prämisse für seinen Ansatz hervor, dass dem Betrachter die dargestellte Geschichte bereits bekannt war, als er die Bilder in der Kapelle betrachtete. "Das Ereignisbild ist in Relation zu einer a priori schon bekannten Geschichte gemalt". (S. 180)

 

Doch Imdahl geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: Ihm zufolge setzte der Maler nämlich nicht nur voraus, dass der Betrachter die den Bildern zugrundeliegenden Geschichten bereits kannte, vielmehr baute er die eigentliche Aussage seiner Bilder sogar auf dieser Voraussetzung auf: "wobei das Zu-Sehende das schon Gewußte artikuliert im Sinne von Interpretation" (S. 180), oder anders gesagt: die Interpretation hängt gerade an dem, was über das Selbstverständliche, das ohnehin schon Bekannte, hinaus geht. Die eigentliche Aussage seiner Werke ist also gerade in dem zu finden, was nicht schon in der Bibel steht!

 

Sog. Arena- bzw. Scrovegnikapelle, Inneres (Blick vom Eingang nach Osten)

Zu seiner Vorgehensweise äußert sich Imdahl nur kurz: er werde aus den beiden Zyklen des Lebens Christi und des Lebens Mariens "in willkürlicher Reihenfolge" vier Bilder auswählen und analysieren, wobei es bei dieser Analyse nicht um eine historische Einordnung oder Kontextualisierung gehe. Stattdessen werde er "ausschließlich von der Phänomenologie der Bilder selbst" ausgehen: "Es handelt sich, genaugenommen, um bloße Bildbeschreibungen." (S. 180)

Imdahl kündigt an, dass er dabei jede einzelne Beschreibung gleich ernst nehmen, nicht verallgemeinern oder abstrahieren werde, um zu allgemeingültigen Aussagen über 'die Kunst' oder 'das 14. Jahrhundert' zu kommen, und dass er dabei bewusst das Risiko eingehen werde, nicht Alles über Giottos Bilder und Erzählstrategien zu sagen, was sich darüber sagen ließe.

 

Was wir also von der folgenden Analyse erwarten, ist eine genaue Betrachtung von vier Bildern, die weitgehend den in den Bildern erhaltenen Strategien zur Lenkung des Blicks, von den immanenten Erzählstrategien folgen, wobei die Kenntnis der jeweiligen, biblischen Geschichte vorausgesetzt wird.

 

Der nächste Blog-Text wird sich mit diesen vier Beschreibungen beschäftigen.

 

 

Diedrichs liest Imdahl (Teil 3 und 4) - Giotto vs. Duccio

Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: Max Imdahl, Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180-209.

 

 

Nach Imdahls einleitenden Worten, u.a. zu seiner Vorgehensweise, nun zu den von ihm ausgewählten Bildbeispielen aus der Arenakapelle in Padua.

 

Bildbeispiel 1: Fußwaschung Christi (Johannes-Evangelium, Kap. 3, V. 4-10)

 

Giotto di Bondone, Fußwaschung Christi, 1304-1306; Padua, Scrovegni- bzw. Arenakapelle

Imdahl zitiert zunächst den gesamten Passus aus dem Evangelium nach Johannes, der die Fußwaschung Christi beschreibt. Dies unterscheidet sich einerseits von der ikonographisch-ikonologischen Methode - die auf ihrer ersten Stufe die 'Phänomenologie' thematisiert und dabei den Anspruch erhebt, möglichst unvoreingenommen zu beschreiben, also auch ohne Zuhilfenahme der entsprechenden Bibeltexte -, andererseits ist es konsequent, da Imdahl, wie er im vorhergehenden Textabschnitt dargelegt hatte, davon ausgeht, dass der Betrachter des Werks im 14. Jahrhundert den Evangelientext bereits sehr gut kannte. Den von Panofsky postulierten 'unvereingenommenen Blick' hat es Imdahl zufolge nie gegeben, weder beim zeitgenössischen Betrachter, noch beim analysierenden Wissenschaftler. Das Zitieren des Evangelientexts ganz am Beginn der Analyse stellt dieses a-historische Postulat also richtig.

 

Auch Imdahls zweiter Schritt überrascht den an der Ikonologie geschulten Betrachter: Imdahl zieht noch vor der Einzelbeschreibung des Bilds den Vergleich hinzu, um auf diese Weise den Blick für die Eigenarten des zu analysierenden Bilds zu schärfen. Eigentlich ist der Vergleich ein geläufiges, kunstwissenschaftliches Instrumentarium, doch Panofsky zufolge geschieht der ikonographische Vergleich erst nach der eingehenden Beschreibung, auf Stufe 2 der ikonographisch-ikonologischen Methode. Imdahl indessen kürzt den Weg gewissermaßen ab.

Zum Vergleich wählt er in diesem Fall Duccios nahezu zeitgleich mit der Arenakapelle enstandene Maestà in Siena, auf der ebenfalls eine Fußwaschung dargestellt ist, und interessanterweise beschreibt er erst diese Bildlösung, bevor er zu der Giottos übergeht.

Duccio di Buoninsegna, Fußwaschung Christi, 1308-1311; Maestà, Siena

Imdahl arbeitet in der Beschreibung des Duccio-Bilds Möglichkeiten der Erzählung durch dargestellte Handlungen - wie das Schuh-An- bzw. -Ausziehen - heraus, deren transitorischer Charakter (also deren impliziten Hinweis auf zeitlichen Verlauf, auf einen Ablauf bzw. Fortschritt) nicht zuletzt durch die Unterbrechung der Handlung betont wird (der Apostel, der Rücken an Rücken zu Petrus sitzt, hält mit halbgeöffnetem Schuh inne, um den Dialog zwischen Petrus und Christus zu verfolgen).

 

Prägend für Duccios Bildlösung erscheint Imdahl indessen die kompositorische Trennung in zwei Gruppen: Christus-Petrus in der linken, alle übrigen Apostel in der rechten Bildhälfte. Schon mit Blick auf Giottos Komposition spricht er indessen von einem "formale[n] Notbehelf", der nur im ersten Augenblick fasziniere, auf Dauer aber nicht wirklich überzeuge und zudem keine Entsprechung in der Deutung des Bilds habe (S. 183). Stattdessen handle es sich um eine rein formale, inhaltlich leere Formel, die aus der italo-byzantinsichen Bildtradition übernommen sei, statt zum "Ausdruck eines 'lebendigen', dem subjektiven Nacherleben geöffneten Vorgangs zu werden." (S. 184)

 

Giottos Bildlösung dagegen "erzielt bei differenzierterer Erzählweise eine vermehrte szenische Evidenz des verbildlichten Ereignisses" (S. 184), wird also schlichtweg abwechslungsreicher und dadurch interessanter.

Auffällig sei, dass die Komposition nun - bei Giotto - vereinheitlicht sei, was auch der Deutung zugute komme.

 

 

Zugleich tritt mit den beiden stehenden, wassertragenden Aposteln eine 'Nebenszene' in den Focus der Aufmerksamkeit, deren Bedeutung durch die Komposition betont wird. Indem sie in ihrer Handlung geradezu ostentativ innehalten, mit ihrer Haltung die laufende Sukzession geradezu aufhalten, lenken sie - Imdahl zufolge - die Aufmerksamkeit wesentlich wirksamer auf die zentrale Szene, als dies bei Duccio der Fall gewesen war. "Indem die exponierten Wasserträger auf den Christus-Petrus-Dialog Bezug nehmen, ist auch dieser selbst exponiert." (S. 185)

 

Abschließend rekonstruiert Imdahl die "Erzählstruktur des Bildes" - nicht zuletzt mit Hilfe des Vergleichs mit der vollkommen anderen Bildlösung Duccios:

Der Betrachter wird durch die mit dem Zubinden der Sandalen beschäftigten, den Dialog zwischen Christus und Petrus unbeachtet lassende Gestalt am linken Bildrand (der Apostel Andreas) in das Bild eingeführt. Die beiden Wasserträger leiten dann optisch zum zentralen Ereignis der Selbsterniedrigung Christi über und dienen dem Betrachter gewissermaßen als Identifikationsfiguren. Das Verharren der Figuren akzentuiert zugleich die Bedeutung des Ereignisses, dessen Zeugen sie werden.

 

Imdahl hatte auf die Unvollständigkeit seiner Beschreibungen hingewiesen, die er bewusst in Kauf genommen hatte, und tatsächlich wird schon an diesem ersten Beispiel deutlich, wie sehr er sich - sicherlich im Sinne der besseren Lesbarkeit seines Texts - auf vereinzelte Phänomene konzentriert. So lässt er bei Giotto neben vielem anderen beispielsweise vollkommen außer Acht, was für dessen Erzählstrategie jedoch keineswegs ohne Belang ist: dass Giotto jeder einzelnen der von ihm dargestellten Figuren mittels Haar- und Barttracht sowie Kleidung eine ganz eigene Persönlichkeit gibt. Auch hier weicht Giotto von der zu seiner Zeit üblichen, italo-byzantinischen Typisierung in auffälliger und die Erzählung wesentlich aufwertender Weise ab.

 

 

Bildbeispiel 2: Hochzeit zu Kana

 

Die Analyse des zweiten Bilds beginnt, anders als die des ersten, unmittelbar mit seiner Beschreibung, allerdings - wiederum abweichend von Panofskys Vorgehen - mit sofortigen Zuordnungen, also ohne die umständliche Scheidung von Phänomenologie und Ikonographie. Imdahls Hauptaugenmerk gilt zunächst der Komposition und der Perspektive.

Giotto di Bondone, Hochzeit zu Kana, 1304-1306; Padua, Scrovegni- bzw. Arenakapelle

 

Als zweiten Schritt nimmt er den Evangelientext (Johannes 2,1-11) hinzu, mit deren Hilfe er einige Details, u.a. Gebärden, erklärt, Dann erst geht er zu einer "genauere[n] Interpretation" über und greift sich dazu zwei Figuren aus der Komposition heraus, die im Bibeltext (so) nicht begegnen. Imdahl erkennt in ihnen zwar nicht, wie es in der mittelalterlichen Bildtradition durchaus üblich war, zweimal dieselbe Figur, aber dennoch versteht er sie als Darstellung des Fortschreitens der Handlung, einer Sukzession also - eine der grundlegenden Strategien für eine 'Erzählung' im Bild. Diese Figuren verkörpern gewissermaßen ein "zuerst" und ein "dann" oder 'danach'. (S. 188)

Zugleich analysiert Imdahl sehr sensibel ein räumliches Hintereinander, das sich erst bei sehr genauem Hinsehen offenbart und das von ihm ebenfalls als "Ausdruck eines zeitlichen Nacheinanders" gelesen wird. (S. 189)

 

Schließlich wird dieser Ablauf einer Handlung auch durch die Komposition unterstützt, wenn Imdahl sie folgendermaßen an dem Wandbehang hinter den sitzenden Personen festmacht:

"Durch ihre indirekte Orientierung auf die Dienstpersonen und den Speisenmeister [die korpulente Gestalt rechts hinter den Krügen] gewinnt die Christusgebärde die Geltung einer Ungleichzeitiges übergreifenden Präsenz, insofern die gezeigten verschiedenen und zu verschiedenen Zeiten motivierten szenischen Situationen von der Entgegennahme des Auftrags 'Füllet die Krüge mit Wasser' bis zur Probe durch den Speisenmeister sämtlich dem Gebote dieser selben Gebärde unterworfen scheinen." (S. 189) Imdahl versteht diese Art der Darstellung als intelligenten Umgang Giottos mit dem Umstand, dass der Bibeltext das Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein selbst nicht beschreibt. Irgendwann zwischen Christi Weisung und dem Kosten des Speisenmeisters ist es geschehen.

 

Ein interessantes Detail der Beobachtungen und Beschreibung Imdahls ist seine Interpretation der oberen Abschlusslinie des Behangs, der sich an allen drei sichtbaren Wänden des Raums entlangzieht.

Diese Linie befindet sich genau in der Augenhöhe des Betrachters und ist daher genau waagerecht und gerade wie der Horizont (de facto ist sie der Horizont), ohne einen durch perspektivische Verkürzung motivierten Knick (was tatsächlich mithilfe eines Lineals überprüfbar ist, auch wenn unser Auge sich aufgrund verschiedener perspektivischer Hinweise Giottos bemüht, Knicke in die Linie hinein zu sehen).

In Imdahls Verständnis steht diese Linie ebenfalls für die Sukzession, den Fortlauf der Handlung von links (Gebärde Jesu) nach rechts (der kostende Speisenmeister): "In der waagerechten Abschlußlinie des Wandbehangs sind [...] Funktionen einer das zeitlich Verschiedene zu szenischer Einheit zusammenfassenden optischen Form und Funktionen einer empirischen Raumdarstellung in eines gesetzt." (S. 190) Tatsächlich experimentiert Imdahl mit Hilfe einer Retuschierung mit dem Abknicken dieser Linie und beobachtet, dass in diesem Fall die Handlung auf dem Bild in Einzelteile zerfällt, statt Teile einer übergreifenden Abfolge zu sein. (Allerdings ist dieses Beobachtung anhand des gezeigten Bildmaterials praktisch nicht nachvollziehbar.)

 

Neben dem Anspruch der Daarstellung einer sich in zeitlicher Sukzession entwickelnden Geschichte stand Giotto außerdem vor dem Problem, dass das eigentliche Wunder zugleich in die Geschichte der Hochzeit eingebettet war. Daraus erklärt sich Imdahl zufolge die eigenartig beherrschende Gestalt der Braut genau auf der Mittelachse des Bilds.

Sie bezieht sich kompositorisch offenkundig nicht auf das Wunder. In ihr sei, so Imdahl, "Zeit als Dauer repräsentiert". (S. 191) In der Interpretationsgeschichte des Bilds ist diese Figur u.a. als Symbol für die Ecclesia, die Kirche, verstanden worden - "solche Interpretationen" aber seien letztlich "doch nur möglich, weil an der Braufgifur ein dem Zeitmaß der Wunderszene noch übergeordnetes Zeitkontinuum" - die Ewigkeit - "zur Geltung kommt." (S. 192) Tatsächlich hebt die Art der Darstellung diese Figur ja aus der fortschreitenden (um nicht zu sagen quirligen) Handlung wirksam heraus.

 

Wiederum zeigt abschließend der Vergleich mit der entsprechenden Szene in Duccios Maestà in Siene, in welchem Maße es Giotto versteht, eine Spannung in die Szene hineinzuholen, zu der jedes einzelne Detail beiträgt.

Duccio di Buoninsegna, Hochzeit zu Kana, 1308-11; Maestà, Siena

Wo bei Duccio Detailverliebtheit und offenkundige Freude am Erzählen (um des Erzählens willen) sichtbar wird, folgt bei Giotto jedes Detail einem übergeordneten Plan - selbst der Wandbehang hinter den sitzenden Figuren und noch die Braut, die neben der Gottesmutter sitzt und nicht das Wunder der auf die Eucharistie verweisenden Wandlung des Wassers in Wein beachtet.

 

 

Bild 3: Die Auferweckung des Lazarus (Joh 11,1-46)

Giotto di Bondone, Die Auferweckung des Larazus, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle

Auch in dieser Bildanalyse geht Imdahl vom Bibeltext aus, den er in diesem Fall jedoch nicht wörtlich zitiert, sondern paraphrasiert. Schon hier verweist er aber auch darauf, dass Giotto in Teilen seiner Bildlösung der byzantinischen Ikonographie verpflichtet bleibe (nämlich dort, wo die beiden Frauen Maria und Martha vor Jesus niederfallen).

Schon im zweiten Absatz aber geht er über zur Kompositionsanalyse. Am meisten fasziniert ihn die auffällige Diagonale des Grabhügels, die das Bild in zwei Hälften teilt. Doch hat diese Diagonale auch noch andere Funktionen. "Indem [...] die Grabhügellinie bei der Christusfigur beginnt und bei der Lazarusfigur endet [über ihr knickt die Linie ab], stellt sie eine Beziehung zwischen diesen Figuren her und verdeutlicht sie zugleich als die dominanten Figuren der Szene." (S. 194)

 

Daneben arbeitet Imdahl weitere, wichtige Funktionen dieser Linie heraus, summarisch diesmal, unter denen v.a. die der Betonung der Gebärde Christi auffällt. Die Linie des Grabhügels verläuft genau parallel zu Christi rechter Hand und betont die Geste nicht nur, sondern stellt zugleich einen von dieser Geste ausgehenden Handlungsablauf her.

Tatsächlich fassen Linie wie Gebärde mehrere aufeinander folgende Ereignisse zusammen. Würde man die Linie eliminieren, indem man das Bild auf Kopfhöhe der Figuren beschnitte, so "entfiele die bildbeherrschende Diagonale und mit dieser die beherrschende Macht der Gebärde." (195) Gebärde und Linie fassen das ganze Bild mit seinen ungleichzeitigen Szenen zusammen - sie scheinen die Handlung gewissermaßen voranzutreiben, Spannung zu erzeugen, wie wir es im Zusammenhang eines Buchs oder Films formulieren würden.

Ungleichzeitigkeit, also die gemeinsame Darstellung von Szenen, die in Wirklichkeit nacheinander geschehen (sind), ist in der nachmittelalterlichen Malerei ein Problem, da sie künstlerisch ein Paradox ist. Giotto, so arbeitet Imdahl heraus, umgeht bzw. bearbeitet dieses Problem, indem er (beispielsweise) jene grüngewandete Figur genau aufder Bild-Mittelachse platziert: "Es ist evident, daß diese Figur in einem rein formalen, bildrhythmischen Sinne zwischen Christus und Lazarus vermittelt, darüber hinaus aber ist ihre doppelseitige Gebärde auch von narrativer Bedeutung.

"Zuerst hatte - so kann es scheinen - die Figur auf Christus geblickt, während jetzt ihr Blick auf den erweckten und vor dem Grab stehenden Lazarus gerichtet ist. Für die eben jetzt aktuelle, schreckhafte Hinwendung auf Lazarus spricht die ans Kinn geführte [linke] Hand (als ein Gestus des Staunens), und für die vergangene Hinwendung auf Christus spricht der noch erhobene [rechte] Arm mit der erschlafften Hand." (196) Der rechte Arm der Gestalt weist quasi auf die Vergangenheit, der linke steht für die Gegenwart So entsteht Sukzession, ein erzählter Ablauf: "In der Fähigkeit zur Vermittlung von Noch und Jetzt ist diese Figur die spannungsvollste Reaktionsfigur, indem sie das Gegenüber von Christus und Lazarus zeitlich dehnt und dynamisiert." (196)

In ähnlicher Weise finden sich weitere Verweise im Bild, die, strenggenommen, durch die Darstellung von Ungleichzeitigem einen Handlungsablauf suggerieren. So wird die Grabplatte auf der rechten Seite gerade noch weggeräumt, während Lazarus schon vor dem Grab steht und die nimbierte Figur vor ihm bereits damit begonnen hat, die Leichenbinden zu entfernen. Zugleich stellt formal die auffällige Parallelität der Grabplatte mit dem Rücken des Grabhügels und damit mit der Geste Christi ein gewissermaßen kausales Verhältnis her.

Imdahl bezeichnet die Geste Jesu als "polyfunktional" (197), denn sie drückt zugleich den Befehl zur Öffnung des Grabs, den Anruf an Lazarus, herauszukommen, und die Anweisung, die Binden zu lösen, aus.

Ein ausgesprochen vielsagender und wichtiger Begriff für die Narrativik eines Bilds, den Imdahl an dieser Stelle einführt, ist der der "Scharniergruppe" (198); man könnte ihn auch auf den von "Scharnierfiguren" verkleinern, die in sehr vielen Bildern begegnen. Das sind eben jene Gruppen oder Figuren, wie wir sie soeben in jener grüngewandeten Figur auf der Mittelachse des Bilds beobachtet haben. Ein Scharnier bilden sie insofern, als sie verschiene Zeitzonen - ein "vorher" und ein "jetzt" oder "nachher" - miteinander verbinden und auf diese Weise Handlung in den Fluss gerät, statt zu erstarren wie ein Schnappschuss. Im Fall dieses Bildes allerdings wird der gesammelte Handlungsfluss durch die eine Geste Christi motiviert und damit zusammengefasst, was künstlerisch-formal durch die Diagonale des Grabhügelrückens unterstützt wird.

 

Faszinierend auch, dass Imdahl ein Bildbeispiel aus der Unterkirche der Magdalenenkapelle in Assisi anführen kann, bei dem sich der Maler ganz offensichtlich an Giottos Bildlösung orientiert, seine narrative Strategie aber nicht verstanden hat. So geht beispielsweise Christi Geste im Gewirr von Hintergrundlandschaft unter und die erwähnten, für die Erzählung so wichtigen Scharniergruppen fallen ganz einfach weg.

 

 

Bild 4: Joachim kommt zu den Hirten

Die Textvorlage für das vierte Bild steht zwar nicht in der Bibel, war den Menschen in Form von Erzählungen, die von Mund zu Mund gingen, aber ebenso vertraut wie ein Bibeltext. Zudem hatte der Dominikaner Jacobus de Voragine die verstreuten Erzählungen gesammelt und um 1264 zur berühmten Legenda aurea zusammengestellt, die bis heute überliefert ist. Darin findet sich auch jene Episode, die die Vorlage für das Bild Giottos liefert.

 

Giotto di Bondone, Joachim kommt zu den Hirten, 1304-1306; Padua, sog. Arenakapelle

Nach dem Zitieren des Texts führt Imdahl nun eine Praxis vor, die er im Verlauf seiner Analysen immer wieder anwendet; in diesem Fall kann er sich dabei auf Vorarbeit des älteren Kunsthistorikers Dagobert Frey stützen.

 

Imdahl untersucht das Bild, indem er es verändert. Er experimentiert, indem er - in diesem Fall - die Hauptfigur im Bild verschiebt, ihre Position innerhalb der Komposition verändert - nicht radikal, aber in Nuancen. Denn schon Frey hatte damit zeigen können, "daß schon ihre [der Figuren] Stellung in ihm [dem Bildfeld] etwas Bestimmtes, Entscheidendes aussagt." (S. 200; Imdahl zitiert Frey)

Diese erste Analyse-Skizze zeigt die Stellung der Figur des Joachim innerhalb der Bildfläche so, wie sie Giotto gewählt hat. - Anders als Imdahl experimentiert Frey nicht mit Nuancen, sondern regt an, die Figur radikal zu verschieben, beispielsweise bis in die andere Bildhälfte hinein. Imdahl geht dagegen sehr viel subtiler vor, was zugleich schwieriger nachvollziehbar ist.

Der Grundgedanke hinter diesem Experiment ist der, dass nicht allein Mimik und Gestik einer Figur diese deuten bzw. auf ihre Bedeutung verweisen, sondern ebenso ihre Position innerhalb der Bildfläche.

Im Fall der Darstellung Joachims im Fresko der Arenakapelle in Padua präzisiert Imdahl den dargestellten Augenblick, vom "gedankenvollen Vorwärtsschreiten", wie Frey ihn bezeichnet hatte, zur Ankunft Joachims bei den Hirten. Das impliziert verschiedene dynamische, spannungsvolle Momente des Vorher-Nachher bzw. Dort-Hier.

 

Nun führt Imdahl sein Experiment der Veränderung der Position der Figur durch und stellt fest, dass sich das Verhältnis Figur - Bildfläche verändert, je weiter die Figur ins Bild hinein gerückt wird:

 

"Während in Abb. 61 die Figur und das leere Bildfeld [...] wie gleichwertige Größen aufeinander bezogen erscheinen [...], erscheinen sie in Abb. 62 ungleichwertig zugunsten einer deutlichen Dominanz der Figur [...]. In Abb. 61 erweist sich das leere Bildfeld als ein Spannungsfeld mit Bezug auf die Figur, in Abb. 62 ist dagegen das leere Bildfeld eine neutrale Folie, gewissermaßen ein Hintergrund oder ein bloßes Environment der Figur." (201f)

Das bedeutet: Je weiter die Figur in die Mitte des Bilds gerückt wird, desto mehr verliert der Bildraum, das Bildfeld, das die Figur umgibt, an Bedeutung. Oder umgekehrt - denn de facto steht Joachim in Giottos Bildlösung sehr weit links, dem Bildrand sehr nahe: je weiter die Figur an den Rand gerückt wird, desto mehr Bedeutung gewinnt die übrige Bildfläche. Die Figur tritt mit der Bildfläche in ein spannungsvolles Verhältnis.

Joachims Ankunft bei den Hirten wird auf diese Weise nicht zu einem Zur-Ruhe-Kommen, sondern es wohnt ihr Spannung inne. Joachim ist auf einem Weg, und der Weg - die Spannung - ist mit dieser Ankunft nicht zu Ende. Eine Reihe weiterer Elemente im Bild, wie beispielsweise der an Joachim hochspringende Hund, verdeutlichen das ebenfalls, Imdahl zufolge "verleiht" dieses Springen dem "Stillestehen selbst einen Ausdruck von Momentaneität": es wird nicht andauern. (203)

Dieser "Momentaneität" stehen wiederum die Reaktionen der Hirten gegenüber: sie zeigen zwei Phasen der Reaktion auf die Ankunft Joachims.

 

Ein weiteres Experiment besteht darin, die Gestalt des Joachim in dieser veränderten, in Richtung der Bildmitte gerückten Position nun wieder in die Gesamtszene zurückzusetzen, also Hirten und Umgebung nach der Veränderung der Komposition wieder an ihre Plätze in Bildfeld zu setzen.

 

Nun "wird aus jener bei den Hirten angekommenen Joachimfigur eine Figur bei den Hirten. Die dynamische Situation hat sich in eine statische Situation verwandelt. Die Joachimfigur verliert den Status der szenischen Hauptfigur." (203) Die drei Figuren scheinen vielmehr in einer fortwährenden Konversation zu verharren.

Was also als "prägnante[r] Erfüllungsmoment", als soetwas wie der aus der Dynamik geborene oder entwickelte 'goldene Augenblick' gedacht ist, wird hier verwischt oder verwässert zu einer unbestimmten Dauer eines niemals zu einem Ende kommenden Gespächs - eines Geplauders.

Die Dynamik bzw. Spannung des Bilds - und sicher nicht nur dieses Bilds - hängt also ganz entscheidend von der Positionierung der Hauptfigur im Bildfeld ab. Auch damit kann ein Bild narrativ werden, also nicht allein durch eine Gebärde, einen Blick oder eine Handlung, sondern auch durch die Positionierung einer Figur, ihr Verhältnis zur übrigen Bildfläche, den Raum, den sie als "Leerraum" oder als "Leerstelle" lässt oder erst eröffnet.

 

Der narrative Stil Giottos

Imdahl charakterisiert den narrativen Stil Giottos, indem er den von F. Wickhoff geprägten Begriff des distinguierenden Stils verwendet. Dieser besteht darin, den prägnantesten Moment innerhalb des Ablaufs des Geschehens auszuwählen und ihn in einer auf einen Blick überschaubaren Komposition darzustellen, ohne dabei das Raum-Zeit-Kontinuum zu verlassen, ohne beispielsweise dieselbe Figur mehrere Male in einer Szene bzw. auf einer Bildfläche erscheinen zu lassen. Trotz aller Einheit von Zeit und Raum gelingt es Giotto, in seinem Bild "Joachim kommt zu den Hirten" eine Sukzession anzudenten.

  • Christel Kuhn (Montag, 29 August 2016 11:13)

    Lieber Herr Dr. Diedrichs,
    herzlichen Dank für die spannenden Ausführungen über Imdahls Ikonik.
    Der Begriff des Raum-Zeit-Kontinuums (keine Imdahlsche "Erfindung") wird in der kunstwissenschaftlichen Literatur oft etwas schwammig und unterschiedlich definiert.
    Eine Definition des Begriffes Zeit macht für mich Sinn: Zeit bezieht sich auf eine sukzessive Handlung im nicht bewegten Bild. Bin Ihnen dankbar für eine Klärung des Begriffes aus Ihrer Sicht.
    Gruß und Dank, Christel kuhn

  • #2

    Dr. Christof Diedrichs (Dienstag, 30 August 2016 07:37)

    Liebe Frau Kuhn,
    vielen Dank für Ihre Nachfrage - die notwendig war, denn ich habe hier etwas missverständlich, zumindest nicht präzise genug formuliert. Mit dem Raum-Zeit-Kontinuum meinte ich jene "Einheit von Zeit und Raum", die Aristoteles für das Drama gefordert hatte. In der Malerei wurde sie im Mittelalter häufig nicht beachtet, hier konnten Figuren mehrere Male in demselben (Bild-)Raum begegnen, Ungleichzeitiges (etwas, das nacheinander geschieht) konnte gleichzeitig (auf derselben Bildfläche) dargestellt werden. Noch Hans Memling macht das am Ende des 15. Jahrhunderts so.
    In der Renaissance, in Rückbesinnung auf Aristoteles aber auch durch den quasi-naturwissenschaftlichen Blick auf die Wirklichkeit (Frühe Niederländer), wird dies unmöglich:
    U n g l e i c h z e i t i g e s darf nun nicht mehr g l e i c h z e i t i g dargestellt werden, auch der Künstler darf sich nicht mehr über die Naturgesetze hinwegsetzen, denn es ging u.a. um eine möglichst gute Nachahmung der äußerlich wahrnehmbaren Wirklichkeit.
    Der richtige Begriff im Zusammenhang meines Texts wäre also der der "Einheit von Zeit und Raum" gewesen.
    Ich hoffe, damit ist Ihre Frage für Sie befriedigend beantwortet!
    Viele Grüße!
    C. Diedrichs