Gerard David, Madonna mit Kind zwischen musizierenden Engeln/ Christi Abschied von Maria, um 1490/95; Basel, Kunstmuseum (zwei Tafeln, ursprünglich als Diptychon montiert; jeweils 11,9 x 9 cm; Mischtechnik auf Eichenholz)
(Archiviert) An der geräumigen Wand des Baseler Kunstmuseums gehen die beiden winzigen Täfelchen fast unter. Mit ihren jeweils nur 11,9 x 9 cm ginge jede von ihnen bequem auf die Seite eines Notizbuchs in der Größe DIN-A6 - auf einer Postkarte wären sie in Originalgröße darstellbar.
Und doch sind die beiden Täfelchen so fein gemalt, dass jedes einzelne Haar zu sehen ist, ebenso die zartgliedrigen Finger mit den präzise dargestellten Fingernägeln, ja dass jede einzelne Hautfalte erkennbar ist. - Gewöhnlich sind es ja diese Dinge - eine eigentlich eher handwerklich begründete Begeisterung über die unglaublich feine Malerei -, die interessierte Betrachter faszinieren. Aber die Täfelchen fesseln noch mehr durch ihren unglaublichen Ausdruck, die Innigkeit und die Gefühlstiefe, die die Figuren beseelen und den Betrachter berühren. Diese Aspekte sind es, die diese kleinen Kunstwerke groß machen - zu wahren Preziosen unter den privaten Andachtsbildern.
Denn das sind sie: private Andachtsbilder. Schon aufgrund ihrer Maße erschließen sie sich nur demjenigen, der sich die Ruhe nimmt und Zeit lässt, sich auf sie einzulassen. Und der sie genau ansieht. Erstaunlich ist dabei auch, dass selbst bei sehr genauem Hinsehen die Kunstfertigkeit der Ausführung der kleinen Tafeln in keiner Weise ihre emotionale Ausstrahlung schmälert. Selbst der Blick des Kunstkenners kann sich der suggestiven Kraft des dargestellten Gefühls nur schwerlich entziehen, trotz aller Begeisterung angesichts der handwerklichen Ausführung der kleinen Meisterwerke.
Ursprünglich waren die Täfelchen durch ein Scharnier miteinander verbunden, so dass sie wie ein Buch auf- und zuklappbar waren. So ergab sich eine Art Mini-Altarretabel, das problemlos zu transportieren war und daher jederzeit und überall für die private Andacht zur Verfügung stand.
Der Rundbogen, der die Tafeln nach oben abschließt, war ursprünglich einmal ein Hoheitssymbol; er findet sich vorbildlich beispielsweise in den Apsiden der frühchristlichen und romanischen Kirchen. Im Fall der beiden Täfelchen jedoch steigert er künstlerisch zusätzlich die Intimität der dargestellten Szenen. Ganz ähnlich bewirkt es der Goldhintergrund: er verweist einerseits auf die Sakralität des Geschehens und deutet in seiner leichten Färbung eine halbrunde Nische an, die wiederum auf das Hoheitssymbol der Apsis verweist, andererseits fasst die Nische die dargestellten Personen formal aber auch noch enger zusammen, als es beispielsweise ein rechteckiger, farbiger Hintergrund bzw. Rahmen vermöchte.
Auf der ehemals rechten Tafel, die Jesu Abschied von seiner Mutter Maria zeigt, stehen Jesus und die Muttergottes einander etwa im rechten Winkel zueinander gegenüber. Die auffällig blasse Muttergottes hat die Hände wie im Fürbittgestus gefaltet, während Jesu Geste zwischen Segen und einer tröstenden Berührung seiner Mutter an der Schulter changiert. Beide tragen blaue Gewänder und sind auf diese Weise in der goldenen Nische noch enger miteinander verbunden, zumal sie von den Rändern der Nische geradezu bedrängt zu werden scheinen. Die Farbkombination aus Blau und Gold wirkt darüber hinaus ausgesprochen vornehm.
Auf der Mittelachse des Bilds, mehr noch: genau im Mittelpunkt des Bilds steht die rechte Hand Christi mitten im Raum. An ihr ist ganz besonders die schon erwähnte Feingliedrigkeit der vornehmen Hände zu beobachten mit ihren langen, schmalen Fingern.
Indessen fällt sie nicht zuletzt dadurch auf, dass sie nicht den 'klassischen' Segensgestus vollzieht, der zu erwarten wäre, wenn Jesus - wie von uns zu Anfang angenommen - seine Mutter tatsächlich segnen würde.
Einen 'klassischen' Segensgestus finden wir beispielsweise an der Gestalt Gottvaters am Genter Altar (Abb. unten). Er zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass die Handinnenfläche dem Empfänger des Segens zugewandt ist und dass zudem Zeige- und Mittelfinger aufgerichtet, während Ring- und Kleiner Finger angewinkelt sind.
Hubert[?] und Jan van Eyck, Genter Altar, geöffneter Zustand [Detail], Fertigstellung 1432; Gent, S. Bavo
Ähnlich ist es auf vielen Darstellungen der Zeit zu sehen, nicht zuletzt auf Rogier van der Weydens Weltgerichtsaltar (1448-51) im Hôtel Dieu in Beaune. Auch bei Varianten dieses 'klassischen' Segensgestus wird immer die Haltung der Finger beibehalten. Diese aber ist auf Gerard Davids kleiner Diptychontafel in Basel eindeutig nicht gegeben.
Die Hand Christi, die auf Täfelchen ganz im Zentrum der Komposition und damit an einer höchst prominenten Stelle steht, vollzieht also keine liturgische Formel. Stattdessen lässt der Maler Christus tatsächlich, wie es uns bei unserem ersten Eindruck erschien, eine sehr intime Geste des Trosts tun, indem der Sohn die Mutter mitfühlend an ihrer Schulter berührt.
Dem entsprechen der Blick und die Körperhaltung Christi: Er blickt der Mutter zärtlich in die Augen und um den Mund spielt die gleiche Traurigkeit wie um den leicht geöffneten Mund Mariens. Zugleich neigt er sich ihr zu. Gemeinsam mit dem ebenfalls blauen Gewand ergibt sich der Eindruck einer innigen Verbundenheit, die es in dieser Form vermutlich kaum ein zweites Mal in der abendländischen Kunstgeschichte geben wird.
Die Geste der Hand stellt indessen zugleich auch eine gewisse Distanz her. So wie die Hand in der Luft steht, kann sie auch zurückhaltend, abwehrend wirken. Es liegt also nicht nur Trost in ihr, sondern zugleich auch die Unabänderlichkeit des Geschehens, die Erkenntnis in die Notwendigkeit der nun in Gang gesetzten Handlung.
Während Christus also zugleich liebende Zuwendung und die Distanz eines unabänderlichen Entschlusses wahrt, die sowohl von der rechten wie von der leeren, sich schließenden linken Hand auf subtile Weise erzeugt wird, ist auf Marias Seite jede Souveränität und Bereitschaft, sich trösten zu lassen, aufgegeben; an ihre Stelle tritt der Eindruck vollkommener Verlorenheit: Aus ihrem Gesicht und den Händen ist alles Blut gewichen, der Blick aus den geröteten Augen geht durch den unmittelbar vor ihr stehenden Jesus hindurch ins Leere, die Lippen öffnen sich kraftlos, ohne doch etwas sagen zu wollen, und aus den verschleierten Augen rinnen Tränen, die die Wangen hinunter perlen. Der Grad der Trauer Mariens, der nicht theologisch, sondern rein emotional begründet ist, zieht bei genauerem Hinsehen die Aufmerksamkeit des Betrachters noch mehr auf sich, als es der gefasst wirkende, mit-leidende Christus auf diesem Bild vermag. Allerdings enthält Jesus sich aller Versuche, die Notwendigkeit seines Schritts zu begründen, und beschränkt sich auf das Bekunden seines Mitgefühls und das Spenden von Trost. Und die Gottesmutter steht da, wie sie bei der Verkündigung dastand, als sie ihr "mir geschehe nach deinem Willen" (Lk 1,38) sprach, zugleich bittend und anbetend, wie sie auch beim Jüngsten Gericht vor Christus knien wird und Fürbitte für die reuigen Sünder einlegen wird.
Es wäre so vieles in diese Figur hineinzudeuten. Maria im Augenblick der Trennung von ihrem Sohn - sie hat bis hierher ihr Werk getan, nun tritt sie zurück hinter seine Aufgabe, gibt ihre 'Exklusivrechte' auf den Umgang mit ihm auf. Nun beginnt auch ihr Opfer, ihr Leidensweg, ohne dass sie noch etwas tun könnte, außer Ihm treu zu sein, Ihn weiter zu verehren und Ihm bis zum Ende nachzufolgen. Unter dem Kreuz wird sie ihn wiedersehen, die nächste Berührung wird sein, wenn Christus in ihren Schoß gelegt werden wird.
Man könnte sich fragen, worum sie in diesem Augenblick wohl bitten mag. Oder spricht der Gestus ausschließlich von ihrer Verehrung? Vielleicht enthält er nichts weiter als das Versprechen, dass sie da sein wird, unter dem Kreuz, wenn alle seine Jünger ihn verlassen haben werden, und was dieses Versprechen sie kostet, ist ihr an ihrem Gesicht und ihren Tränen anzusehen.
Im Zuge des Aufblühens der Laienfrömmigkeit im Spätmittelalter wuchsen nicht allein die Möglichkeiten privater Andachtsübungen, sondern ebenso die Kenntnis um die imaginative Versenkung in das Leiden Christi und Mariens. Vorbildlich wirkten hier beispielsweise die Meditationes vitae Christi aus dem frühen 14. Jahrhundert (früher dem Hl. Bonaventura zugeschrieben, heute [mit Fragezeichen] dem Franziskaner Johannes de Caulibus). Die Gläubigen waren es also inzwischen gewohnt, sich phantasievoll-mitfühlend in die dargestellten Personen hinein zu versetzen und ihre Leiden emotional und ausgesprochen bildhaft mitzuvollziehen.
Vor diesem Hintergrund wählte Gerard David einen der dramatischsten Augenblicke im Leben der Gottesmutter für seine Darstellung auf der linken Diptychon-Tafel. Auf diese Weise bietet er dem Betrachter des Täfelchens eine auf höchst einfühlsame, zugleich geradezu moderne Weise gestaltete Bühne, eine Folie, mit deren Hilfe er durch den meditierenden Blick auf das Leid Mariens auf sein eigenes Leid und seine eigene Opferbereitschaft schauen und es bedenken (und im christlichen Sinn deuten) kann. Die Poesie dieser kleinen Szene soll ihn nicht etwa theologisch belehren oder überzeugen, sondern emotional ergreifen. Und das vermag diese kleine Darstellung in bewunderungswürdiger Weise zu tun!