Edvard Munch, Das kranke Kind, 1885-86; Oslo, Nasjonalgalleriet

Edvard Munch, Das kranke Kind, 1885-86; Oslo, Nasjonalgalleriet

 

(Archiviert) Das verhältnismäßig große Bild in der Nationalgalerie in Oslo (Anm. 1)  ist fast quadratisch (119,5 x 118,5 cm), obwohl überraschend große Teile - vor allem am rechten Bildrand - praktisch leer bleiben. Edvard Munch hat es in Ölfarben auf Leinwand gemalt.

 

Der Blick des Betrachters wird vom ersten Moment an von dem hellen, durch feuerrotes Haar und eine durch ein weißes Kissen erzeugten Aureole umrahmten Gesicht eines Mädchens angezogen, das im Profil zu sehen ist. Anders als das übrige Bild ist dieses Gesicht sehr klar erkennbar. Den Oberkörper stellt Munch so aufrecht dar, als wenn das Kind stehen würde. Tatsächlich lehnt es den mit dem Rücken an dem erwähnten, großen Kissen. Unterleib und Beine sind unter einer Decke verborgen, auf der die rechte Hand des Mädchens liegt.

 

 

Die andere Hand verschmilzt mit der Hand einer Frau, die neben dem Mädchen sitzt und ihren Kopf tief sinken lässt, zu einer farbigen Einheit. Statt auf das Gesicht dieser Frau fällt der Blick des Betrachters auf die Oberseite ihres Kopfs, der von den streng gescheitelten, am Hinterkopf in einem Knoten zusammengefassten Haaren bedeckt wird. Das Kinn der Frau ist gänzlich auf die Brust gesunken, sie wirkt vollkommen entkräftet.

Die ineinander liegenden Hände beider Figuren, die genau auf der Mittelachse des Bilds angeordnet sind, hat Munch so undeutlich gehalten, dass nicht zu erkennen ist, wer der beiden Frauen die Hand der anderen hält. Die Körperhaltungen legen nahe, dass eher das Kind die Hand der Frau hält als umgekehrt.

 

Während das Mädchen indessen die zusammengesunkene Frau anzusehen scheint, trifft diese bei genauerem Hinsehen der verschleierte Blick des Mädchens nicht wirklich. Er geht vielmehr über den Hinterkopf der Frau hinweg und verliert sich entweder in unbestimmter Ferne oder ist auf ihr eigenes Innere gerichtet. Das Mädchen ist sozusagen 'abwesend'.

 

 

Edvard #Munch hat sich in diesem Bild gleich mehrerer ikonographischer Traditionen bedient, die einerseits als Hintergrund hinter dem traurigen Bild stehen, andererseits aber nicht unbedingt erkannt werden müssen, um das Bild in seiner emotionalen Dramatik zu verstehen. Die Kenntnis der Traditionen, in denen das Bild steht, verleiht ihm indessen (noch) mehr Komplexität.

 

Ikonographische Tradition I

Die eine Tradition betrifft den Blick selbst.

 

Der Blick der Protagonisten innerhalb eines Bilds kann auf unterschiedliche Weise gerichtet sein und funktionieren.

(1) Die unmittelbarste Weise ist die eindeutige Ausrichtung des Blicks auf ein bestimmtes Ziel. Sie ist gewissermaßen die einfachste, am wenigsten komplexe Weise.

 

(2) Es waren vor allem die Frühen Niederländer, die verschiedene andere Aussage- und Deutungsmöglichkeiten des Blicks kultivierten. So taucht in überraschend vielen Bildern das Phänomen des so genannten Auswärtsschielens auf.

 

Hans Memling, Diptychon des Maarten van Niewenhove, rechte Tafel: der Stifter Maarten van Niewenhove (Detail), 1487; Brügge, Stedelijke Musea - Memlingmuseum

Medizinisch müsste man hier von Strabismus divergens oder Exotropie sprechen - wenn es denn bei der Darstellung um ein reales, medizinisches Phänomen ginge. Die einschlägige, kunsthistorische Forschung hat jedoch herausgefunden, dass es hier keineswegs um die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe einer tatsächlich vorhandenen Fehlstellung der Augen des Dargestellten ging. Vielmehr steckt dahinter eine ganz andere Absicht: Maarten van Niewenhove, dem auf der anderen Tafel dieses Diptychons die Jungfrau Maria mit dem Jesuskind gegenüber sitzt, sieht gleichzeitig auf zwei Weisen, sieht zugleich in zwei Realitätsebenen hinein. Er sieht äußerlich und innerlich, sieht in eine reale und eine visionäre Welt. - Die unterschiedlichen Realitätsebenen sind gerade in diesem Bild Hans Memlings auf gleich mehrere Weisen thematisiert, so dass in diesem Fall mehr als nur wahrscheinlich ist, dass sich auch das 'Außenschielen' auf eben diesen Gedanken bezieht.

 

(3) Eine weitere Möglichkeit, den Blick eines Protagonisten im Bild hinweisend ("deiktisch", von Deixis = Zeigen) einzusetzen, begegnet an einem anderen Werk Hans Memlings, der Darstellung der Kreuzigung Christi auf der Mitteltafel des Triptychons des Jan Crabbe.

 

Hans Memling, Kreuzigung des Triptychons des Jan Crabbe (Mitteltafel; Detail),

um 1470; Vicenza, Museo Civico

Während die drei stehenden Heiligen Johannes, Johannes der Täufer und Bernhard von Clairvaux die in Ohnmacht sinkende Muttergottes unverkennbar unmittelbar anblicken, bleibt der - durch scheinbaren Strabismus divergens in seiner Richtung unklare - Blick des knienden Stifters, des Zisterzienserabts Jan Crabbe, unbestimmt. Er schaut die Muttergottes an und sieht sie doch nicht, der Blick ist in ihre Richtung gewendet, aber er trifft sie nicht. Er scheint vielmehr an ihr vorbei zu sehen, als wenn er, wie es auf Jan van Eycks "Madonna des Kanonikus van der Paele" zu beobachten ist, ein inneres Bild vor Augen hätte, das ihm im Zuge seiner Meditation als ein 'inneres Gesicht', eine Vision, erscheint.

Die Art des Blicks, die durch Außenschielen und Unbestimmtheit geprägt ist, ist also auch hier nicht etwa ein Hinweis auf eine tatsächliche Fehlstellung der Augen und ebensowenig auf einen 'Fehler' oder ein Unvermögen des Malers bei der Darstellung des Stifters. Vielmehr veranschaulicht die spezifische Darstellung dieses Blicks die Anteilnahme des Dargestellten an gleich zwei Realitätsebenen, einer realen und einer visionären.

 

 

Auch der Blick des kranken Mädchens, das Edvard Munch in seinem 1885/86 entstandenen Bild darstellt, nachdem er Jahre zuvor (1877) seine Schwester Sophie mit 15 Jahren an Tuberkulose hatte sterben sehen; auch der Blick also dieses kranken Mädchens geht ins Unbestimmte. Unter anderen zeigt eine Kaltnadelradierung aus dem Jahr 1894, dass dies nicht etwa ein Zufall ist, sondern genau so beabsichtigt war.

 

Edvard Munch, Das kranke Kind (Kaltnadelradierung), 1894;

London, British Museum

 

Eine zeitgleich entstandene Lithographie im Munch-Museum, Oslo, zeigt sogar, dass der Blick des Mädchens ganz ohne das Gegenüber der älteren Frau auskommt. Dann wird seine auf innere 'Abwesenheit' deutende Ungerichtetheit noch deutlicher.

 

Das kranke Mädchen also, das sich auf ihrem Krankenlager der Frau mit ihrem streng nach hinten gebundenen Haar zuwendet, hat, so könnte man ihren Blick auf der Grundlage der angesprochenen ikonographischen Tradition deuten, aufgrund ihrer zum Tod führenden Krankheit bereits Anteil an einer 'anderen Welt', einer anderen Realität. Die Dramatik des Bilds mag nicht zuletzt mit dieser 'Abwesenheit', dem Beginn einer Art Transzendierung des Mädchens, zu tun haben. In die Realität des Krankenzimmers ist die Realität der Ewigkeit eingezogen.

 

Für die zusammensinkende Frau (Anm. 2) bleibt diese Realität allerdings unsichtbar. Sie hat sich gänzlich ihrer Trauer überlassen und sich in sich selbst versenkt.

 

Ikonographische Tradition II

Die zweite, ikonographische Tradition, die dem Bild zugrunde liegt, reicht in der Geschichte der abendländischen Kunst ebenso weit zurück wie die erste.

Die Konstellation der beiden Figuren erinnert an eine Szene aus dem Leben der Muttergottes Maria, die zwar nicht in der Bibel erzählt wird, in der christlichen Tradition aber dennoch eine große Rolle spielte: der Abschied Jesu von seiner Mutter.

Nürnberger Meister, Jesu Abschied von seiner Mutter Maria, um 1500; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum

Die Bilder, die dieses Ereignis darstellen, zeigen jenen Augenblick unmittelbar vor der Passionsgeschichte, in dem Jesus von seiner Mutter Abschied nimmt, um 'nach Jerusalem hinauf' zu gehen, wo ihn der Tod am Kreuz erwartet. Die bekannteste Fassung stammt von Albrecht Dürer (Holzschnitt aus dem Zyklus des Marienlebens, 1504/05), doch war das Thema vom späten 15. bis zum 17. Jahrhundert so beliebt, dass es eine große Verbreitung fand. Ältere Versionen wie beispielsweise jene von Gerard David (Anm. 3) vermeiden noch die genrehafte Ausschmückung, doch in den meisten der jüngeren Fassungen wird darauf großer Wert gelegt. Im 16. Jahrhundert wird die Szene nicht zuletzt auf Epitaphien dargestellt (Anm. 4).

 

Auffällig bei dem Vergleich dieser Szene in der Fassung eines Nürnberger Bilds aus der Zeit um 1500 mit dem Bild des "Kranken Kinds" von Edvard Munch ist die Tatsache, dass auch hier die Blicke Jesu und Maria einander nicht treffen, dass dieser Kontakt vielmehr von einer der beiden Figuren vermieden wird.

Hier ist es Maria, die mit ungerichtetem Blick Jesus nicht (mehr) wahrzunehmen scheint. Dieser allerdings hat sich auch bereits umgewandt und die ersten Schritte von der Mutter weg getan, wendet sich nur noch einmal um und wirft einen Blick zurück.

 

Dennoch ist das Verhältnis vergleichbar und es wird deutlich: Was wir auf Munchs Bild sehen, ist ein Abschied. Und der Fokus liegt dabei nicht nur auf demjenigen, der geht, sondern nicht weniger auf dem, der zurückbleibt. 

Das Mädchen, das gewissermaßen schon 'im Weggehen' begriffen ist, mag in gewisser Weise bereits als verklärt aufgefasst werden mit dem Lichtschein um ihr engelsgleiches, durchscheinendes Gesicht.

Aber die gesichtslose Gestalt neben ihm, die sich an die Hand des Mädchens zu klammern scheint, ohne verhindern zu können, dass sie ihr genommen werden wird, dient - nicht zuletzt aufgrund ihrer 'Gesichtslosigkeit - als unmittelbare Identifikationsfigur für den Betrachter. Nicht das bereits halb der anderen Welt zugehörige Mädchen scheint es zu sein, das am tiefsten leidet - ausgehend von der Szene des Abschieds Jesu von seiner Mutter könnte man sogar sagen, dass die begründete Hoffnung besteht, dass das Mädchen durch sein Leiden in eine bessere Zukunft gehen wird. Die verzweifelte, kraftlose Frau aber hat nicht diese Zukunft im Blick. Sie bleibt zurück. Sie muss das Mädchen gehen lassen und ohne es weiter leben. Dabei zeigt nicht zuletzt der Vergleich mit der Muttergottes die Tiefe des Leids, das die Zurückbleibenden quält: Nicht Maria wird es sein, die ans Kreuz geschlagen wird, aber ihr Leid ist nicht weniger tief, da ihr ihr Sohn genommen, vor ihren Augen gefoltert und getötet werden wird. - Tatsächlich nimmt kompositorisch die Figur der in sich zusammengesunkenen Frau gemeinsam mit der tiefen Dunkelheit hinter ihr innerhalb der Bildfläche nicht weniger, sondern mehr Raum ein als das Kind, sie ist unmerklich sogar bis auf die Mittelachse, also ins Zentrum des Bilds gerückt.

 

Wie sehr Munch gerade diese letzte Sicht auf das Erlebnis von Krankheit und Not in seiner eigenen Familie in diesem Bild verarbeitet hat, lässt nicht zuletzt ein Blick auf seinen Umgang mit dem Bild selbst, mit den Farben und der Leinwand, erahnen. Uwe M. Schneede spricht von einem Schaffensprozess "als eruptiver Akt vor der Staffelei", die in der Geschichte der abendländischen Kunst etwas Neues darstellt und den Expressionismus maßgeblich prägen wird:

"Vor dem Original in der Nationalgalerie Oslo empfindet man fast schmerzhaft den Furor, mit dem Munch die Leinwand mit Pinsel, Palettmesser und Pinselstiel geschabt und geritzt, neue Schichten aufgelegt und wieder gekerbt und zerkratzt hat. Die zerklüftete Bildoberfläche zeugt von Malträtierungen, die verwundete Farbhaut übermittelt die Erregtheit bei der Erinnerung an die Leiden." (Anm. 4)

 


Anmerkungen:

1. Eine zweite, fast identische Version des Bilds befindet sich in Göteborg, Konstmuseum. Sie ist 1896 datiert. - Insgesamt entstanden bis etwa 1925 sechs Fassungen von "Das kranke Kind". Die in der Nationalgalerie Oslo ist die erste. Darüber hinaus existieren zahlreiche Zeichnungen und Druckgraphiken.

2. Aus historischen Gründen kann es sich bei dieser Frau theoretisch nicht um die Mutter Munchs und seiner älteren Schwester Sophie handeln. Diese war bereits vor dem Mädchen, 1868, wie diese an Tuberkulose gestorben. Zu diesem Zeitpunkt war sie 33, Munch 5 Jahre alt.

3. Vgl. den Blogtext vom 21. März 2017.

4. Uwe M. Schneede, Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis zur Gegenwart, München 2010 (2. Auflage), S. 12.