Govaert Flinck, Kalvarienberg, 1649; Basel, Kunstmuseum

 

(Archiviert) Das Kunstmuseum Basel zeigt derzeit [Mai 2017] eine Ausstellung ("Hola Prado! Zwei Sammlungen im Dialog"), mit der auch ein wenig beachtetes Werk der eigenen Sammlung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät: Govaert Flincks 1649 in Amsterdam entstandenes Gemälde "Kalvarienberg".

 

#Govaert Flinck, #Kalvarienberg, 1649; Basel, Kunstmuseum

Auf den ersten Blick ist die künstlerische Nähe des Werks zu Rembrandt zu erkennen. Tatsächlich war Flinck ein Schüler Rembrandts und zu Lebzeiten bereits für seine Werke berühmt.

 

Der zuständige Kurator des Kunstmuseums Basel, Dr. Bodo Brinkmann, hat dankenswerterweise die Gelegenheit ergriffen, das sonst wenig beachtete Werk auch im Katalog vorzustellen, so dass sich für den Besucher der Ausstellung die Möglichkeit ergibt, sich intensiv mit dem Werk zu beschäftigen. Allerdings stellt sich die Frage, warum der Katalogtext gewissermaßen auf der Hälfte der Besprechung stehenbleibt. Warum wird das eigentlich Spannende des Bilds, was das Bild für uns sehenswert macht, nicht erwähnt?

 

Das Bild sieht auf den ersten Blick aus wie eine gängige Darstellung der Kreuzigung Christi aus der 'Goldenen Zeit' der niederländischen Malerei, unverkennbar in der Darstellungsweise des Zeitalters. Da sind die charakteristische Lichtführung und nicht zuletzt die Verschiebung der Kreuze, die nicht frontal dem Betrachter gegenüber angeordnet sind, sondern in Schrägansicht zu sehen sind. Ähnliches ist beispielsweise auf Rembrandts #Kreuzaufrichtung und seiner #Kreuzabnahme in der Alten Pinakothek in München zu beobachten.

 

Rembrandt Harmenszoon van Rijn, Kreuzabnahme, um 1632/33; München, Alte Pinakothek

 

Während Rembrandt allerdings das Kreuz Christi im Zentrum der Bildtafel belässt, geht Flinck einen charakteristischen Schritt weiter und rückt das Kreuz Christi gemeinsam mit denen der beiden Schächer aus der Mittelachse des Bilds heraus deutlich nach rechts. Die Aufmerksamkeit bleibt trotzdem bei Christus am Kreuz, denn er ist schlaglichtartig angeleuchtet, aber auf der Mittelachse erscheint nun ein alter Mann, der gemeinsam mit anderen Personen am Fuß der Kreuze steht und zu Christus aufblickt.

 

 

Eigentlich sollte dieser Umstand den Betrachter, der mit der Ikonographie des Motivs und mit den von den Künstlern verwendeten künstlerischen Mitteln vertraut ist, irritieren. Ist hier dem Maler ein Fehler unterlaufen? Warum wird der Blick nicht auf den Gekreuzigten konzentriert, sondern gewissermaßen hin und her gerissen?

 

Komposition und Lichtführung sind zwei jener Mittel, die ein Künstler verwenden kann, um den Blick des Betrachters durch sein Bild hindurch zu führen. So kann er Wichtiges von weniger Wichtigem unterscheiden, kann auf Dinge aufmerksam machen, die für die Interpretation des Bilds von besonderer Bedeutung sind, und anderes in den Hintergrund rücken. Tatsächlich scheint Christus, was die Aufmerksamkeit für ihn angeht, zumindest Konkurrenz zu bekommen. Denn der alte Mann im Zentrum wird nicht allein durch die Mittelachse betont, sondern darüber hinaus durch den gleichen Lichtstrahl, der auch Christus trifft.

 

Im Katalog der Ausstellung in Basel wird das Bild eingehend beschrieben. Dieser Aspekt taucht allerdings nicht auf. Ebensowenig andere, die den Betrachter ebenfalls verunsichern sollten.

So ist beispielsweise am unteren, linken Bildrand eine Gruppe von Männern zu sehen, die im Katalog als "die drei Soldaten" bezeichnet werden, die dem Johannesevangelium zufolge um das Gewand des gekreuzigten Christus würfelten.

 

 

Immerhin wird im Katalogtext vermerkt, dass es sich eigentlich um vier Soldaten handeln müsste (Joh 19,23). Nicht jedoch wird auf das eigenartige Aussehen dieser "Soldaten" eingegangen. Sind das wirklich die grobschlächtigen, halbnackten Landsknechte, die gewöhnlich im Rahmen dieser Szene dargestellt werden? Oder erinnern sie nicht vielmehr an Zeitgenossen Flincks, wie wir sie beispielsweise auf Rembrandts "Nachtwache" finden können?

 

Unter dem Kreuz ist außerdem eine Gruppe von elf Personen zu sehen, die im Katalog als die "Parteigänger Christi" bezeichnet werden. Es handle sich unter anderem um die Muttergottes in den Armen des Lieblingsjüngers Christi, Johannes, und am Fuß des Kreuzes, den Kreuzstamm umschlingend, Maria Magdalena.

 

Der bereits erwähnte, stehende Mann wird versuchsweise mit Nikodemus oder Joseph von Arimathia identifiziert. Der kaum erkennbare, einen Turban tragende Mann unmittelbar hinter dem Kreuz könne möglicherweise den römischen Hauptmann meinen, von dem das Bekenntnis "Wahrhaftig, das war Gottes Sohn!" (Mt 27,54) stammt.

 

Auch diese Gruppe steckt für den aufmerksamen Betrachter allerdings voller Irritationen, die er wegen ihrer Fülle eigentlich nicht unbeachtet lassen dürfte. Die als "Muttergottes" bezeichnete Frau liegt in einer Weise am Fuß des Kreuzes, wie sie nirgendwo sonst zu finden ist. Zudem trägt sie nicht die für sie typische Kleidung - weder Blau noch Weiß oder Rot - und offenbar grobe Strümpfe und Pantoffeln, was geradezu undenkbar für die Gottesmutter ist. Außerdem ist es auffällig, dass sie nicht von dem Lichtstrahl getroffen wird, der u.a. den alten Mann und den Gekreuzigten trifft; stattdessen liegt sie eher im Schatten.

Auch jene um sie bemühte Frau mit einem auffälligen Hut ist in der Ikonographie der Kreuzigung vollkommen ungewöhnlich, der Versuch, sie mit der "von Johannes (19,25) erwähnte[n] Schwester [Mariens]" zu identifizieren, bleibt rein spekulativ.

Das bei der Gottesmutter zu erwartende Blau der Kleidung ist im Bild im Übrigen durchaus zu finden, doch nicht bei dieser "Maria", sondern bei der als "Maria Magdalena" bezeichneten Frau am Kreuzstamm. Für jene aber wäre eine ganz andere Kleidung charakteristisch, die an ihr früheres Leben als Prostituierte erinnern würde.

So finden wir sie beispielsweise auf einem Bild der Kreuzigung von Anthonis van Dyck, das fast genau zeitgleich mit jenem von Govaert Flinck entstanden ist. Die Komposition ist (seitenverkehrt) durchaus vergleichbar, aber hier 'stimmt' die Ikonographie, d.h. die Gottesmutter, Maria Magdalena und Johannes sind ohne jeden Zweifel eindeutig zu identifizieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anthonis van Dyck, Kreuzigung Christi, 1631

 

Auch die anderen Personen auf den Flinck'schen Bild passen bei näherem Hinsehen nicht in eine Darstellung der Kreuzigung Christi hinein, wie sie in Kenntnis der ikonographischen Gepflogenheiten zu erwarten wäre. Sie erscheinen vielmehr wie Zeitgenossen des Malers, die wie bei einer Zeitreise in den Kontext der Kreuzigung versetzt worden wären. Das gilt nicht allein für die "Gottesmutter" und "Maria Magdalena", sondern auch beispielsweise für jene junge Mtter mit ihrem Kind an der Hand, die auffälligerweise ebenfalls vom spotlightartigen Lichtstrahl unmittelbar getroffen wird und auf diese Weise eher vom Betrachter wahrgenommen wird als die vermeintliche "Gottesmutter". Und es gilt auch für die "Soldaten", die zwar bewaffnet und in eine heftige Debatte verwickelt sind - was die Annahme vom Streit um das Gewand Christi nahelegt -, aber ganz und gar von jener Art abweicht, wie diese Soldaten gewöhnlich dargestellt werden.

 

 

Warum aber diese Abweichungen? Und warum werden sie von uns nur unter solchen Schwierigkeiten wahrgenommen?

 

Die Antwort auf die zweite Frage ist einfach: Weil wir gewöhnlich sehen, was wir wissen bzw. erwarten. Das hängt wahrscheinlich noch mit der alten, aber irrigen Vorstellung zusammen, die Bilder würden die Geschichten der Bibel erzählen, damit jene, die nicht in der Bibel lesen können, sie auf diese Weise erfahren. Daher auch immer wieder die unbedachte Rede von der "Illustration" - als würden die Maler genau das in Bilder übersetzen, was in den Texten erzählt wird, diese also nur 'illustrieren'.

Dass dies ein Irrtum ist, ist schon daran zu erkennen, dass im 17. Jahrhundert, als die Werke Rembrandts, van Dycks und Flincks entstanden, niemand in Europa die biblischen Geschichten nicht kannte. Der Ausspruch von den Bildern als 'Schrift' für jene, die nicht lesen können ("pictura est litteratura laicorum") stammt aus der Zeit um 600 n.Chr., als große Teile Europas noch nicht christianisiert waren. Für das 17. Jahrhundert aber hat er keine Bedeutung mehr.

 

Und daraus ergibt sich die Antwort auf die erste Frage: Warum diese offenkundigen Abweichungen vom Text? Weil es eben nicht um Nacherzählung oder Rekonstruktion der 'historischen' Ereignisse geht, so wie sie in der Bibel geschildert werden. Dafür interessierte man sich in dieser Zeit so gut wie nicht. Soetwas wie eine 'historisch-kritische' Lektüre der Bibel wird erst mehr als 200 Jahre später erfunden.

Stattdessen geht es für den Betrachter, der im 17. Jahrhundert vor einem solchen Bild wie dem von Flinck gemalten steht, um etwas ganz anderes: um Andacht, Versenkung, Kontemplation. Und vor allem um die Frage: Was bedeutet dieses Ereignis der Kreuzigung für mich, ganz konkret und aktuell?

 

Schon seit dem hohen Mittelalter war die Versenkung in die biblischen Ereignisse immer weiter getrieben worden. Die Mystiker hatten es vorgemacht und die Seelsorger predigten es, dass sich der Mensch möglichst intensiv in die Situationen hinein versetzen sollten, von denen sie in der Bibel lasen oder im Gottesdienst hörten. Sie sollten sie, wenn möglich, mit ihrem ganzen Gefühl und allen Sinnen nachvollziehen.

 

Und eben dies scheint in dem Bild von Govaert Flinck zu geschehen, nur dass der Maler die Grenze zwischen Bild und Betrachter aufhebt und den Betrachter gewissermaßen 'wirklich' unter dem Kreuz platziert. Der Betrachter, der ein Beter, nicht aber ein Kunstkenner ist, sieht sich dort selbst: als Soldat, als alter Mann, als junge Mutter mit Kind, als alte Frau - denn das ist die vermeintliche Gottesmutter bei genauem Hinsehen - und noch in vielerlei anderen Figuren. Flinck hat ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Identifizierung versammelt. Er erleichtert auf diese Weise das Sich-Hineinfühlen, das Sich-Hineinleben in die Situation, die in den anderen Bildern immer sehr weit entfernt zu sein scheint.