Ein Blog zu Themen aus Kunst und Kunstgeschichte
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(Archiviert) Mimesis - die Nachahmung der 'Natur', vielmehr: der äußerlich sichtbaren Wirklichkeit. In den Augen vieler Menschen entscheidet vor allem in der älteren Kunst sie über die 'Qualität' eines Kunstwerks: Ein Porträt sei 'gut', so meinen viele Leute, wenn das Bild möglichst weit dem Abgebildeten entspricht, wenn das Dargestellte 'erkennbar' ist; aber es habe 'Mängel', wenn der Hals zu lang geraten ist, die Augen eine andere Farbe haben oder das Gesicht ganz einfach anders auszusehen scheint.
Dabei haben diese Kriterien in der überwiegenden Zeit der immerhin mehr als 1200 Jahre währenden Geschichte der abendländischen Kunst nur eine untergeordnete Rolle gespielt; sie prägten nicht die mittelalterliche Kunst (8./9. - 15. Jahrhundert) und auch nicht jene der Moderne (um 1800 - ca. 1950) oder der Postmoderne (seit ca. 1950). In der Neuzeit (15. - 18. Jahrhundert) erlebten sie allerdings ihren Höhepunkt, vor allem an deren Beginn.
Dies lässt sich nicht zuletzt aus den erhaltenen, schriftlichen Quellen herauslesen und - selbstverständlich nur mit Vorbehalten - sogar an einer einzelnen Person festmachen, mit der eigentlich, wenn wir nicht auf den allgemein gültigen Epocheneinteilungen bestehen, die Neuzeit in der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte beginnt.
Giotto di Bondone, Kruzifix bzw. Tafelkreuz, 1290-1300; Florenz, Sta. Maria Novella
In seinen "Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten" beschrieb der Maler und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574) ganz zu Beginn das Leben des Giotto di Bondone (1267 oder 1276-1337).
Giotto gehört noch nicht in die Reihe der Renaissance-Maler, die unserem Schulwissen über die Renaissance zufolge erst am Beginn des 15. Jahrhunderts, etwa mit Masaccio (1401-1428), beginnt. Aber Vasari, zu dessen Lebenszeit sich dieses 'Schulwissen' erst langsam zu formen begann, sieht dies anders: In seinen "Lebensbeschreibungen" beginnt mit Giotto ganz ausdrücklich ein neues Zeitalter in
der abendländischen Kunstgeschichte: die Wiederentdeckung der über lange Zeit vergessenen, "richtige[n] Mal- und Zeichenkunst."
Er schreibt:
"Nachdem die richtige Mal- und Zeichenkunst so viele Jahre lang gleichsam unter Kriegstrümmern begraben gelegen, vermochte er [Giotto], obwohl noch inmitten von ungeschickten Handwerkern geboren, dank der ihm vom Himmel verliehenen Gaben die fast erstorbene Kunst ganz aus sich allein heraus neu zu beleben und auf eine Höhe zu bringen, die vorzüglich genannt werden darf. Es ist wahrhaftig ein großes Wunder, dass jenes rohe und ungebildete Zeitalter imstande war, in Giotto solche Erkenntnisse hervorzurufen, dass die Gesetze der Malerei, von denen die damaligen Menschen nur wenig oder gar nichts wussten, durch seine Tüchtigkeit wieder zum Leben erweckt wurden." (Anm. 1)
Zum Verständnis und zur richtigen Einordnung dieser Stelle ist es nützlich, im Bewusstsein zu behalten, dass wir es hier nicht etwa mit einer modernen, wissenschaftlichen Schrift zu tun haben, sondern mit dem erstmals 1550 erschienenen Buch des "Vaters der Kunstgeschichte", der voller Verachtung auf das Mittelalter - "jenes rohe und ungebildete Zeitalter" zwischen Antike und Renaissance - herabsah und in der Renaissance die Rückkehr zu einer vollendeten Kunst erkannte.
Das Mittelalter, dem Vasari noch den damals berühmten und hoch angesehenen Lehrer Giottos, Giocanni Cimabue (um 1240 - ca. 1302), zurechnete, bedeutete für ihn, wie er schrieb, eine "unendliche Flut von Unheil, die [...] dem unglückseligen Italien alle Lebensluft geraubt hatte" und in dem "nicht nur die kunstvollen Bauwerke [jene der Antike] zerstört" worden waren, "sondern, was noch viel schlimmer war, es gab auch keine Künstler mehr." (Anm. 2)
Den ersten Schritt aus diesem 'düsteren Zeitalter' heraus erkannte Vasari bereits eben bei Cimabue, der "nach dem Willen Gottes das Licht der Malkunst neu entzünden sollte." (Anm. 3)
Cimabue, Kruzifix, wohl um 1275/80; Florenz, Santa Croce
Cimabue, künstlerisch selbst der mittelalterlich-byzantinischen (bei Vasari: der 'griechischen') Tradition verhaftet - allerdings bereits mit Ansätzen zu einem Neubeginn in der Kunst - wird es dann sein, der Giotto entdeckt!
Vasari berichtet:
"[...] musste Cimabue [...] ein großes Kruzifix auf Holz malen, das noch jetzt in der Kirche [S. Croce] zu sehen ist. Diese Arbeit ward zur Veranlassung, dass der Vorsteher, der damit sehr zufrieden war, ihn nach seinem Kloster S. Francesco in Pisa schickte, um ein Bild des heiligen Franziskus zu malen, welches dort als ein seltenes Kunstwerk geschätzt wurde, da man in seiner Art, den Ausdruck der Gesichter und die Falten der Gewänder darzustellen, etwas Neuartiges und Besseres erkannte als in den Malereien nach griechischer Manier, in welcher damals alle Künstler nicht nur in Pisa, sondern in ganz Italien arbeiteten." (Anm. 4)
Cimabue nun kommt, wie Vasari weiter berichtet, zufällig in die Nähe von Vespignano nördlich von Florenz und findet einen
"kleinen Hirtenjungen [...], der sich, während seine Schafe grasten, eine saubere, glatte Steinplatte ausgesucht hatte und darauf mit einem spitzen Stein ein Schaf nach dem Leben zeichnete, was ihn einzig sein natürlicher Instinkt gelehrt hatte. Cimabue blieb verwundert stehen und fragte ihn schließlich, ob er mit ihm kommen und bei ihm lernen wolle, worauf der Knabe antwortete, wenn sein Vater es zufrieden sei, wünsche er sich nichts Besseres.
[... Daraufhin] zog Giotto mit nach Florenz, wo er nicht nur in kurzer Zeit die Kunst seines Meisters erlernte, sondern auch die Natur so getreu nachzubilden verstand, dass er die unbeholfene griechische Manier völlig überwand. Er erweckte die richtige, gute Malkunst, wie sie jetzt wieder allgemein geübt wird, zum Leben und führte aufs neue die Methode ein, Menschen nach lebenden Modellen zu zeichnen, die über zwei Jahrhunderte lang vergessen gewesen war." (Anm. 5)
Giotto di Bondone, Auferweckung des Lazarus (Detail), zwischen 1300 und 1305; Padua, Capelle di Scrovegni/Arenakapelle
An dieser Passage ist Vieles bemerkenswert. Vor allem aber wird hier ein Paradigmenwechsel deutlich: Während noch Cimabue, wie die gesamte vorhergehende Tradition der Malerei, ihre eigene Malerei weitgehend an den Vorbildern der byzantinischen Künstler ausrichtete - an Cimabues Kreuzigungstafel in Santa Croce (Abbildung oben) ist unschwer die byzantinische Ikonenmalerei wiederzuerkennen -, revolutioniert Giotto die Kunst, indem er sich nicht mehr in der damals üblichen, künstlerischen Tradition an der Kunst, sondern an der Natur orientiert: nicht mehr Kunstkopie, sondern Nachahmung der Natur (= Mimesis) wird die Richtschnur seiner Malerei.
Das ist an seinen Figuren unschwer zu erkennen und Vasaris Begeisterung ist nachvollziehbar, wenn man sie mit den älteren, im Vergleich durchweg hölzern und unbewegt wirkenden Darstellungen vergleicht.
Giotto di Bondone, Begegnung Joachims und Annas unter der 'Goldenen Pforte', zwischen 1300 und 1305; Padua, Capelle di Scrovegni/ Arenakapelle
Die Fresken in der so genannten Arenakapelle in Padua sind dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Sowohl die schockierte Überraschung der Zeugen der Auferweckung des Lazarus (Abbildung oben), als auch die Zärtlichkeit der Wiederbegegnung der Eltern Marias einschließlich der unterschiedlichen Reaktionen auf den 'Skandal' dieser Wiederbegegnung sind in den Bildern emotional nachvollziehbar, was bis zu diesem Zeitpunkt um 1300 in der Malerei undenkbar gewesen war. Für Vasari, den manieristischen Maler in der Zeit der Spätrenaissance, ist dies aber gewissermaßen die Grundlage jener 'modernen' Entwicklung der Kunstgeschichte, der er selbst als Spätrenaissance-Maler noch angehört. (Anm. 6)
Der Paradigmenwechsel oder, wenn wir so wollen, die Epochenschwelle, die hier deutlich wird, ist also gekennzeichnet durch die Hinwendung der Kunst zu einem Ideal, das vorher so nicht bekannt gewesen war: dem Ideal der Mimesis.
Es ist wichtig, sich dies klarzumachen, denn daraus ergeben sich verschiedene, folgenreiche Schlussfolgerungen, die unser Bild auf die jeweilige Kunst verändern können:
Masaccios "Dreieinigkeits"-Fresko, das sich in derselben Kirche in Florenz befindet wie Giottos oben gezeigtes Tafelkreuz, gilt im Schulwissen als das erste Renaissance-Bild, zudem als erstes Bild, das die von Brunelleschi entwickelten mathematischen Regeln der Linearperspektive anwendet.
Aber es ist erst etwa 120 Jahre nach Giotttos Werken entstanden!
Masaccio, Dreieinigkeit, 1427; Florenz, Santa Maria Novella
Giotto also und seine Zeichnungen auf einem Stein um 1280/90, in denen er Tiere nach der Natur darstellte, markieren jenen Punkt innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte, an dem möglicherweise zum ersten Mal konsequent und mit nachhaltigen Folgen (Anm. 7) danach gestrebt wurde, auf der Malfläche die Illusion von Wirklichkeit herzustellen. Erst jetzt, seit der Zeit um 1300 also, beginnen die Maler, sich bei ihren Darstellungen an der Wirklichkeit zu orientieren. Cimabues Erstaunen beim Anblick des auf einen Stein zeichnenden Hirtenjungen macht diesen Schritt auf beeindruckende und höchst anschauliche Weise deutlich.
Anmerkungen
(1) Giorgio Vasari, Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten. Aus dem Italienischen übersetzt von Trude Fein. Nachwort von Robert Steiner, Zürich 1974, S. 41. - Vgl. die neue Übersetzung der "Lebensläufe" von Victoria Lorini: Giorgio Vasari, Das Leben des Cimabue, des Giotto und des Pietro Cavallini. Hg., kommentiert und eingeleitet von Fabian Jonietz und Anna Magnago Lampugnani, Berlin 2015.
(2) Vasari, Lebensläufe (wie Anm 1), S. 7.
(3) Ebd.
(4) Ebd.
(5) Vasari, Lebensläufe (wie Anm. 1), S. 42.
(6) Der Begriff 'modern' begegnet bereits im hohen Mittelalter, um eine wertende Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit herzustellen; vgl. z.B. Albert Zimmermann (Hg), Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter (= Miscellanea Mediaevalia 9), Berlin/New York 1974.
(7) Ansätze dazu hat es selbstverständlich schon früher gegeben. Das ist gerade an der Tradition der Darstellung von Kreuzigungen abzulesen, wobei deren so genannte Entwicklung keineswegs geradlinig und logisch im Sinn eines kontinuierlichen, künstlerich-handwerklichen Fortschritts verläuft.
"Wieviel Theorien habe ich nicht gemacht ... Großer Gott ..." (Anm. 1)
Dieser Satz stammt von Paul Cézanne (1839-1906). Überliefert hat ihn Joachim Gasquet (1873-1921), der Sohn eines Kindheitsfreunds Cézannes, Henri Gasquet.
Paul Cézanne, Joachim Gasquet, 1896; Prag, Galerie für Moderne Kunst
Cézanne ist ja eigentlich eher bekannt für die theoretische Durchdringung seines künstlerischen Werks. Es gibt eine Reihe von Äußerungen von ihm, die geradezu zu Klassikern moderner Kunsttheorie geworden sind.
"Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so daß jede Seite eines Objekts, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt." (Anm. 2)
Dieses Zitat gehört ebenso dazu wie
"Der Künstler sollte jede Meinung verwerfen, die nicht auf der einsichtsvollen Beobachtung des Charakteristischen beruht" (Anm. 3)
oder
"Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen verwirklichen" (Anm. 4),
wobei sowohl das erste Zitat als auch das Wort "verwirklichen" im letzten umfassende kunsttheoretische Debatten ausgelöst haben, mit denen die sprichwörtlichen Regalmeter in Bibliotheken gefüllt werden könnten.
Solche kunsttheoretischen Debatten bergen indessen eine Gefahr: dass wir unseren Blick auf die eigentlichen Kunstwerke allzu sehr von diesen Texten leiten lassen. Denn wir wissen ja inzwischen, wie stark Wörter und Texte unseren Blick prägen, dass unser Blick gewissermaßen kontaminiert ist, wenn wir etwas gelesen haben, das sich auf das Gesehene bezieht. Ein unvoreingenommener Blick ist dann kaum noch möglich.
Paul Cézanne, Le Mont Sainte-Victoire, 1904-1906; Basel, Kunstmuseum
Es fällt leicht, gerade Cézannes spätere Werke, vor allem jene, die den berühmten Mont Sainte-Victoire zeigen, mithilfe des Zitats "Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive" zu betrachten und zu deuten.
Allerdings sollte uns das allererste Zitat eigentlich stutzig machen. Es drückt unverkennbar ein gewisses Misstrauen dem Wort und der Theorie gegenüber aus, als wenn das Wort nicht wirklich in der Lage wäre, etwas Dauerhaftes hervorzubringen, als seien diese Theorien so zeitbedingt und beliebig, dass ihnen aus einer gewissen Distanz keinerlei Wert mehr beigemessen werden dürfte. Und schließlich bleibt diese Theorie ja auch im rein Formalen hängen, damit an der Oberfläche - so sehr, dass man sich scheut, eine Betrachtung auf ihrer Grundlage "Deutung" zu nennen. Kann es denn sein, dass der Maler wirklich nichts weiter wollte, als die 'Natur', also die sichtbare Wirklichkeit, in Zylinder, Kugeln und Kegel zu verwandeln, vielleicht um auf diese Weise klarzumachen, dass diese geometrischen Formen jeder Erscheinung in der Wirklichkeit zugrunde liegen? Ist es vorstellbar, dass Cézanne den Mont Sainte-Victoire wirklich nur aus diesem Grund gemalt hat? Und was ist dann mit all den anderen Bildern, in denen dieses theoretische Prinzip nicht ohne weiteres wiederzuerkennen ist?
Paul Cézanne, Haus von Père Lacroix in Auvers, 1873; Washington, National Gallery
Wie häufig aber bleiben die Deutungen der Bilder Cézannes tatsächlich in diesen formalen Äußerlichkeiten hängen - selbst dort, wo sie bei näherer Betrachtung eigentlich kaum anwendbar sind.
Die abendländische Kultur ist - oder war von der Renaissance bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (dem so genannten iconic turn) - eine Buchkultur, eine Kultur des Worts. Indem sie konstatierte, am Anfang sei "das Wort" gewesen, zeichnete sie sich durch eine Wertschätzung des Worts aus, die die Wertschätzung beispielsweise des Bilds weit in den Schatten stellte (jedenfalls ist es so die einhellige Meinung der Forschung). Das Wort, das in diesem Zeitraum allerdings sorgfältig gewählt und mit Bedacht gesprochen oder geschrieben wurde, galt gemeinhin als konkreter, weniger deutbar, sogar weniger vergänglich als das Bild, selbst wenn das Bild unmittelbarer auf den Geist einwirken mochte (aber dadurch machte es sich gerade verdächtig). Misstrauen dem Wort gegenüber ist erst das Produkt einer Zeit, in der das Wort eine solche Inflation erfahren hat wie in der unsrigen, so dass es heute kaum noch etwas gilt. Jemandem 'sein Wort geben' war einst ein quasi-juristischer Akt - heute gilt es eher als Indiz für eine fast sichere Lüge.
Dazu steht allerdings in seltsamem Widerspruch, wie wir mit Kunst umgehen. Nicht selten findet sich in diesem Zusammenhang die Vorstellung, dass wir, bevor wir uns mit einem Kunstwerk beschäftigen, zunächst einmal etwas darüber lesen müssen. Die seit den 1970er Jahren immer dicker werdenden Ausstellungskataloge - nicht selten mehrbändige Werke - sind ein vielsagender Beleg dafür. Eine 'Deutung' gar finden wir, so eine weit verbreitete Vorstellung, nicht durch eine gründliche Betrachtung des Bilds, sondern durch Informationen, die wir aus Begleittexten erhalten (denen wir zudem seltsam unkritisch gegenüber stehen).
Allerdings hinterlassen diese 'Deutungen' nicht selten einen schalen Beigeschmack. Das soll alles sein? Zylinder, Kugel und Kegel?
In Werken der vormodernen Kunst findet man gewöhnlich noch eine systematisch ausgearbeitete Aussage, vor allem wenn es um einen religiösen Bildvorwurf geht. Aber moderne Kunst erscheint nicht selten reduziert auf ihre formale Erscheinung. Und da wir so fixiert sind auf das Wort und hier ganz besonders auf die als 'authentisch' geltenden Selbstäußerungen der Künstler, wird unsere Art der Kunstbetrachtung notwendigerweise immer oberflächlicher - bis uns schließlich nicht einmal mehr auffällt (und auch nur selten zitiert wird), was Cézanne eben auch gesagt hat:
"Wieviel Theorien habe ich nicht gemacht ... Großer Gott ..."
Paul Cézanne, Das Meer bei L'Estaque, 1876; Zürich, Fondation Rau pour le Tiers-monde
Anmerkungen
(1) Michael Doran (Hg), Gespräche mit Cézanne. Aus dem Französischen von Jürg Bischoff, Zürich 1982, S. 150.
(2) Brief an Emile Bernard, 15.04.1904; zit. nach Doran/Cézanne 1982 (wie Anm. 1), S. 43.
(3) Brief an Emile Bernard, 12.05.1904; zit. nach ebd., S. 45.
(4) Emile Bernard, Paul Cézanne, 1904; zit. nach ebd., S. 54.
Schon an mehreren Stellen war in diesen Blogtexten davon die Rede, dass wir bei der Betrachtung und Beurteilung von Kunst sehr bewusst und sorgfältig zwischen 'Kunst' und 'Handwerk' oder (künstlerischer) Technik unterscheiden müssen. So ist für den künstlerischen Rang (häufig 'Qualität' genannt) beispielsweise eines Porträts nicht die Porträt-Ähnlichkeit ausschlaggebend, wie dies häufig zu beobachten ist, denn dies ist ein rein handwerklich-technisches Kriterium.
Was aber machen wir unter diesen Voraussetzungen beispielsweise mit folgendem Bild:
Wie würden Sie dieses Bild beurteilen? Ist das Kunst? Oder doch eher Handwerk bzw. hervorragende, künstlerische Technik?
Wir sehen den Kopf einer älteren Frau. Ihre Haare sind vollständig von einer seltsamen, aufwändig in mehreren Schichten gearbeiteten, mit Rüschen verzierten Haube verdeckt, die ihrerseits von einem fast durchsichtigen Tuch umhüllt wird, das vor dem Hals geknotet ist.
Das Auffallende an diesem Bild(ausschnitt) ist der intensive Ausdruck des Gesichts: Die Frau ist schon älter, worauf nicht zuletzt die Falten im Gesicht und der erstaunlich muskulöse, fast männlich wirkende Hals verweisen. Ihr Gesicht weist an vielen Stellen Runzeln auf. Der Mund ist leicht geöffnet, die Mundwinkel sind etwas heruntergezogen. Die Augen werden durch die leicht herabhängenden Augenlider leicht verschleiert, die Stirn weist eine charakteristische Wölbung auf, die auf ein schmerzliches oder nachdenkliches Runzeln hindeutet. Im linken Auge scheinen sich am unteren Lid Tränen zu sammeln.
Der Blick geht vielleicht ins Leere, auch wenn diese häufig leichthin gemachte Beobachtung nur schwer zu belegen ist, zumal wir den Zusammenhang, aus dem die Bildtafel stammt, nicht genau kennen. Immerhin wäre es möglich, dass die Frau ihren Blick ursprünglich auf eine Figur oder Szene gerichtet hatte, die ihre offensichtliche Trauer begründen würde und die sich auf einem anderen Flügel des Altarwerks befunden haben könnte.
Theoretisch könnten wir bis zu diesem Punkt auch von einer Fotographie sprechen. Der Maler hat das Gesicht einer älteren Frau so detailliert wiedergegeben, dass es uns als überzeugend 'lebensecht' erscheint: ja, denken wir, so könnte diese Frau ausgesehen haben, vermutlich in einer Situation, in der sie von einer zu Herzen gehenden Trauer, vielleicht von Mitleid, in jedem Fall von großer Anteilnahme erfüllt war.
Was aber macht dieses Bild zur Kunst? - Allein die Tatsache, dass es sich um Malerei und eben nicht um eine Fotographie handelt, kann es nicht sein, denn dies wäre ein Aspekt von Handwerk oder Technik, und es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass Gemälde nicht Kunst sind - beispielsweise bei sämtlichen Kopien von berühmten oder weniger berühmten Gemälden.
Der Kopf stellt einen Ausschnitt aus einer hochrechteckigen Tafel dar, die sich heute im Städel-Museum in Frankfurt am Main befindet. Derzeit tendiert die Forschung dazu, sie dem so genannten Meister von Flémalle zuzuschreiben, es sind aber auch andere Namen im Umlauf (Anm. 1). Wahrscheinlich ist sie zwischen 1427 und 1432 entstanden und war zweifellos ursprünglich Teil eines größeren Ensembles von Tafeln, die gemeinsam ein Altar-Retabel mit mehreren Klapptafeln bildete - wie dieser genau aussah, ist jedoch nach wie vor unsicher. (Anm. 2)
Bei der Frau handelt es sich um die Heilige Veronika, eine rein legendäre Gestalt, die nicht in der Bibel vorkommt, aber der Überlieferung zufolge Christus auf dessen Leidensweg ein Tuch reichte, mit dem er sich das Gesicht abtrocknete und auf dem wunderbarerweise ein Abdruck des Gesichts zurückgeblieben ist ("Vera icon": lateinisch, das 'wahre Abbild' = Veronika). Auf der Altartafel trägt Veronika dieses Tuch in ihren Händen und präsentiert es dem Betrachter, den sie dabei jedoch, was auffällig ist, nicht ansieht. Auch das Gesicht Christi, das dem ikonographischen Brauch entsprechend en face dargestellt ist, schaut nach links, damit in die gleiche Richtung, in die auch Veronika sieht - die Blicke könnten sich also gut auf etwas beziehen, das vom Betrachter aus gesehen rechts der Veronika-Tafel zu sehen gewesen wäre, vielleicht auf der Haupttafel des Altars.
Die Heilige steht auf einem Rasenstück vor einer mit einer mit Blattornamenten geschmückten Tapete bedeckten Wand. Sie ist in ausgesprochen kostbare Gewänder gekleidet, ihr leuchtend roter Mantel ist sogar mit einer aufwändigen, glänzenden Goldborte verziert, die mit Perlen und Edelsteinen bestickt ist.
Spätestens durch diese letzteren Beobachtungen werden wir wieder von der Assoziation einer Fotographie abkommen müssen, denn all diese Details entsprechen in keiner Weise der (ohnehin rein legendarischen) 'historischen' Situation des Leidenswegs Christi in Jerusalem. Veronika ist eindeutig nicht im Rahmen dieser Geschichte dargestellt, sondern herausgelöst und in einen vollkommen anderen Kontext gestellt.
Das 15. Jahrhundert war, wie bereits häufig festgestellt wurde, jene Zeit, in der innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte zum ersten Mal konsequent die 'Natur' (vgl. Das Problem mit der 'Natur') abgebildet wurde. Aufgrund von bestimmten technischen Entwicklungen und Erfindungen, wie beispielsweise der Technik der Ölmalerei, traten die Maler in einen Wettstreit miteinander, wer von ihnen die Wirklichkeit am wirklichkeitsgetreusten darstellen konnte. Die verwegendsten Künstler gingen dabei so weit, die Flammen eines Feuers darzustellen oder auch Sonnenstrahlen, die durch Glas oder Wasser fallen. Der Maler, der 'unsere' Heilige Veronika malte, stand ganz offensichtlich mitten in diesem Wettstreit, zumal das Bild zeitlich überraschend früh datiert wird. Als eines seiner Spezialgebiete wählte er durchsichtige Stoffe, aber auch die Darstellung von Gesichtern ist wahrhaft faszinierend.
Wir wollen dem Maler selbst nicht darin folgen, Hierarchien herzustellen und uns darauf festzulegen, welcher der niederländischen Maler des 15. Jahrhunderts nun "der beste" gewesen ist. Die Forschung kann bisher nicht einmal genau auseinanderhalten, welches Bild von welchem Maler stammt. So soll beispielsweise dieser Bildausschnitt (rechts; "Kreuzabnahme"; Madrid, Prado) von Rogier van der Weyden stammen, doch gibt es dafür keinen Beleg außer dem Stil der Malerei (Anm. 3). Und in der Stilkritik ist im Verlauf der Kunstwissenschaft wahrhaftig viel geirrt, modifiziert und revidiert worden - jede Generation von Kunsthistorikern scheint sich dadurch profilieren zu wollen, dass sie zu anderen Ergebnissen kommt.
Tatsache bleibt: Diese Gesichter - und nicht nur die Gesichter, sondern jedes Detail dieser detailversessenen Bilder (sehen Sie sich z.B. den Pelzkragen dieses Teilnehmers der Kreuzabnahme Christi an!) - lädt dazu ein, den Grad des technischen Könnens des Malers, die Vollkommenheit seiner Naturnachahmung (= Mimesis) zu bewundern.
Aber ist wirklich das die (ganze) großartige Leistung dieser bemerkenswerten, außergewöhnlichen Künstler?
Ginge das, also die technisch hergestellte, faszinierend wirklichkeitsgetreue Wiedergabe oder Nachahmung der 'Natur' (Mimesis) nicht auch auf andere Weise, als wie wir sie uns gewöhnlich vorstellen, wobei in dieser Vorstellung immer ein Maler vorkommt, der ohne jede technischen Hilfsmittel, nur mit Bleistift und Block in der Hand oder mit Leinwand, Palette und Pinsel ausgestattet seine 'Kunst' (eigentlich: sein 'Handwerk') ausübt und auf geniale, schöpferische Weise ein großartiges Kunstwerk hervorbringt gleich dem Schöpfergott, der einst den Menschen erschuf?
Diese Darstellungen von Künstlern belegen ein vollkommen anderes Vorgehen der Maler. Sie zeigen, wie ein Bild entsteht, das möglichst genau und vor allem perspektivisch-räumlich überzeugend Menschen oder Gegenstände abbilden will. Dabei arbeitet der Maler nicht etwa freihändig, sondern mithilfe technischer (optischer) Vorrichtungen, durch die auf durch und durch handwerkliche Weise maßstabgerechte Zeichungen eines sitzenden Mannes (oben) und einer Laute in extremer Verkürzung entstehen. Dabei stammen diese Darstellungen nicht etwa, wie wir aufgrund unserer Vorstellung vom Künstler-Genie erwarten würden,
Albrecht Dürer, Zwei Zeichenapparate (Zeichner eines sitzenden Mannes, Zeichner einer Laute), aus: Unterweisung der Messung, Buch 4), Ausgabe von 1525
von einem Hobbymaler, der sich 'Tricks' ausdenkt, um sein mangelndes Talent zur wirklichkeitsgerechten Darstellung zu kaschieren, sondern sie wurden im frühen 16. Jahrhundert in einem Lehrbuch mit höchstem Anspruch vorgestellt, und zwar von niemand anderem als Albrecht Dürer!
Man darf also getrost davon ausgehen, dass ein Künstler keine Scheu davor hatte, technische Apparaturen zu verwenden, um mimetisch stimmige Bilder herzustellen.
Aber ist das dann die Kunst? Macht das den Reiz - den einzigen (und einzigartigen) Reiz - der oben gezeigten Darstellungen der Hl. Veronika und des weinenden Mannes unter dem Kreuz aus?
Denken Sie einmal darüber nach!
Epilog
In einem Roman der Brüder Edmont und Jules de Goncourt (1822-1896 bzw. 1830-1870), der nach Vorarbeiten seit 1861 im Jahr 1867 erschien, begegnet eine schöne Formulierung, die in ihrer Schlichtheit eine wunderbare Antwort auf unsere Frage gibt, ohne sie unnötig auszuschmücken - was im Rahmen der Schreibweise der Goncourts überrascht - oder sie ausführlich erläutern zu wollen. Hier spricht einer der Künstler, die die Protagonisten des Romans bilden, ausgehend von Überlegungen zu den beiden Idolen jener Zeit, zu Ingres (1780-1867) und Delacroix (1798-1863), über die Kunst der Antike. Unter anderem begeistert er sich für den antiken Künstler Phidias (um 500/490 v.Chr. - um 430/420 v.Chr.)
Er spricht über die erstaunliche Fähigkeit dieses und der anderen, antiken Künstler zur Mimesis: "Stellt euch einen Pferdekopf von Phidias vor ... Nun!, er sieht aus, als lebte er."
Aber dann kommt das Erstaunliche: "Macht einen Abguss von einem Pferdekopf und vergleicht ihn damit!" Was geschieht?
Wenn man den Abguss und das antike Kunstwerk nebeneinander hält, wird deutlich, dass das Kunstwerk sich von dieser 'Kopie' der Wirklichkeit auf unmerkliche, subtile Weise unterscheidet. Während der Gips-Abguss den Pferdekopf wiedergibt, wie er seinem äußeren Erscheinungsbild nach aussieht, steckt in dem Kunstwerk mehr als nur die bloße Abbildung, mehr als die möglichst genaue, technisch perfekte Nachahmung der Natur.
Und nun die wunderbare Formulierung, die alles enthält, was Kunst zur Kunst macht:
"Das ist das Geheimnis aller schönen Dinge der Antike: Sie sehen aus wie Abgüsse; sie wirken echt und wirklich, aber es ist die Wirklichkeit gesehen durch die Persönlichkeit des Genies." (Anm. 4; Hervorhebung von C.D.)
Nicht Technik also macht Kunst zur Kunst. Durch die Persönlichkeit des Künstlers wird aus einem (Hand-)Werk ein Kunstwerk.
(1) Vgl. den grandiosen Ausstellungskatalog: Stephan Kemperdick/Jochen Sander (Hgg), Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden. Katalog zu einer Ausstellung des Städel Museums, Frankfurt am Main, und der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, Ostfildern 2008.
(2) Jochen Sander, 'Flémaller Tafeln': Die stillende Gottesmutter, die Hl. Veronika mit dem Schweißtuch Christi und der Gnadenstuhl, in: Kat. Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden 2008 (wie Anm. 1), S. 206-214.
(3) Jochen Sander, Die Rekonstruktion von Künstlerpersönlichkeiten und Werkgruppen, in: Kat. Der Meister von Flémalle und Rogier van der Weyden 2008 (wie Anm. 1), S. 75-93.
(4) Edmond & Jules de Goncourt, Manette Simon. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Mit einem Nachwort bereichert von Alain Claude Sulzer, Berlin 2017, S. 158.
Venus von Milo, Ende 2. Jahrhundert v. Chr.; Paris, Louvre
Wenn gespart werden muss - sei es in einem Staat, in einem Betrieb oder in der ganz persönlichen Geldbörse - dann geht man zuerst an die Luxus-, oder, wenn es die schon nicht mehr gibt, an die 'nicht unmittelbar wichtigen' Ausgaben. Das ist nur logisch.
Man geht an das, was man 'sich gönnt', wenn man es sich leisten kann.
Entsprechend sehen wir es allerorten: Ganz oben auf der Liste jener Dinge, die man 'sich gönnt', die aber nicht von unmittelbarem Nutzen sind und daher in schwierigen Situationen zur Disposition stehen, steht die Kultur. Es ist nur verständlich, dass man, wenn man nicht genug zu Essen hat, sein Geld nicht für den Kauf von Theater- oder Konzertkarten verwenden wird: Wer Hunger hat, gibt sein Geld für Essbares aus, nicht für den Besuch eines Museums. Das ist nachvollziehbar.
Aber wenn wir uns offenen Auges in unserer Umgebung umschauen - die überwiegend nicht durch die unmittelbare Bedrohung durch Hunger geprägt ist -, werden wir feststellen, dass diese Ausgaben- und Einsparungspolitik Auswirkungen auf die Menschen hat. Es ist den Menschen anzumerken, ob sie sich zwischendurch mit Kunst und Kultur beschäftigen oder ob nicht.
Regelmäßige Stammtischbesucher sind nicht unbedingt bekannt dafür, dass sie sich häufig und intensiv kulturellen Veranstaltungen aussetzen.
Sie sind aber bekannt für ihr schnelles Urteil.
Wer wollte, könnte diese beiden Beobachtungen in eine Beziehung zueinander setzen. Die könnte beispielsweise lauten: Je mehr man sich Kunst und Kultur aussetzt, desto zurückhaltender und differenzierter wird man in seinem Urteil.
Aber kann das stimmen? Kultur ist doch 'für nichts nütze', ist 'von keinem unmittelbaren Wert', wie man allerorten (nicht nur an Stammtischen) hören kann. Die Aufführung einer Beethoven-Sinfonie lindert keinen Hunger, das Rezitieren eines Gedichts beendet keinen Krieg und die Betrachtung eines Bilds trägt nicht dazu bei, die Familie zu ernähren. Alles das ist nichts als 'Luxus', den man sich sparen kann ...
"Was allem überlegen ist: die Kunst. Ein Gedichtband ist mehr wert als eine Eisenbahn."
Gustave Flaubert
"Die Kultur kehrt die gewöhnliche Naturanschauung um und führt den Geist dazu, dasjenige 'Schein' zu nennen, was er gewöhnlich 'wirklich' nennt, und dasjenige 'wirklich' zu nennen, was er gewöhnlich 'visionär' zu nennen pflegt."
Ralph Waldo Emerson
An dieser Stelle war schon des Öfteren die Rede davon, dass Sehen kein rein optischer, sondern vor allem ein kultureller Vorgang ist. Auch in meinen Büchern bin ich immer wieder darauf eingegangen. Mit diesem Text möchte ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Und der hat mit dem Aspekt der "Geschwindigkeit" zu tun, mit dem ich mich im Rahmen meines derzeit entstehenden Buchs über William Turners Bild "Regen, Dampf und Geschwindigkeit" beschäftige. Diesmal soll es ein betont kurzer Text sein, der mehr zum Nachdenken anregen als Informationen vermitteln soll. (Ganz nebenbei zeigt er vielleicht auch, dass unsere Beschäftigung mit Kunst keineswegs ein rein elitärer, weltabgehobener Spleen ohne Relevanz für unser soziales Leben ist, sondern, richtig verstanden, dieses Leben entscheidend mitgestalten kann.)
Bewegte und nicht bewegte Bilder
Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass das bewegte Bild - zunächst auf der Filmleinwand, seit einem guten halben Jahrhundert massenweise über die Fernsehbildschirme - ein technischer Fortschritt gegenüber der Einzelfotographie oder gar dem gemalten Bild ist.
Aber die Frage stellt sich: Gilt das auch für den Menschen? D.h. wirkt sich dieser 'Fortschritt' positiv auf den Menschen aus? Führt er zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Frieden, zu weniger Hunger auf der Welt?
Wir sprechen nicht umsonst vom 'Konsumenten' dieser Bilder. Was drückt diese Formulierung aus?
Würden wir angesichts eines mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Betrachter eines Bilds ebenso vom 'Konsumenten' sprechen?
Warum nicht?
Weil dieser Betrachter mit dem Bild ganz anders umgeht.
Der verletzte Tristan wird von Isolde gefunden; aus dem sog. Tristanzyklus ("Tristan und Isolde") (Terraverdemalerei), um 1410; Bozen/Burg Runkelstein, Sommerhaus
Literaturverfilmungen
Die meisten von uns haben es schon erlebt, dass ein Buch, das sie sehr gut kennen und mögen, verfilmt wurde. Das Ergebnis, auf das man sich anfangs vielleicht gefreut hat, ist fast immer eine Enttäuschung.
Warum?
Weil der Film meist ziemlich anders aussieht als das, was die Fantasie bei der Lektüre des Buchs erschaffen hatte.
Der mittelalterliche oder frühneuzeitliche Betrachter eines Bilds hatte meist nur dieses eine Bild, ob es nun in sakralem oder profanen Kontext stand (wie das oben gezeigte Bild aus Burg Runkelstein). Es erzählte nicht so sehr eine ganze Geschichte in all ihren Details, als dass sie Erinnerungsstütze war - eine Anregung, sich die ganze Geschichte in all ihren Details vorzustellen. Die Fantasieleistung, die eigene Imagination war also nicht nur erwünscht, sondern geradezu notwendig. Nur so konnte der Betrachter des Bilds sich die ganze Geschichte 'erzählen lassen': indem er sie in seiner Fantasie abspielen ließ.
Die Erfindung der Fotographie beschränkte bereits diese Fantasieleistung. Wie weniger reizvoll wäre es, wenn wir Fotos von Jesus Christus, von Michelangelo oder von Rembrandt hätten. Es macht einen nicht geringen Reiz aus, sich Bilder dieser Persönlichkeiten selbst zu erschaffen.
Was aber macht der Film?
Es gibt nicht wenige Theorien, die dem Film ausdrücklich bescheinigen, dass er die Fähigkeit zu eigener, kreativer, gedanklicher Tätigkeit, zu (aktiver) Vorstellung abtötet. Die Fantasieleistung wird hier so sehr heruntergefahren, wenn nicht verhindert, dass wir geradezu von ihrem Ende sprechen können. Sie ist nicht mehr erwünscht. Stattdessen nur noch der (passive) Konsum, der inzwischen auf hunderten von Kanälen 24 Stunden am Tag möglich ist - als ginge es darum, den Menschen unter allen Umständen dauerhaft vom Selbstdenken, von aktiver Gedankentätigkeit abzuhalten.
Gesellschaftlich gesehen ...
... reicht dieser Vorgang wesentlich weiter als nur bis zum Fernsehen.
Wir sind es nicht mehr gewohnt, unsere Fantasie einzusetzen (und dafür auch noch Verantwortung zu übernehmen). Fantasie aber ist nichts anderes als Weiterdenken, als die Fähigkeit, sich etwas plastisch vorzustellen, etwas zu durchdenken - bis zum Ende, bis zu den Konsequenzen, die ein spontaner Einfall, eine Idee vielleicht haben wird (und die sich am Ende vielleicht als nicht so toll herausstellen wird, wie sie im ersten Augenblick schien). Stattdessen lassen wir uns unterhalten, wir konsumieren, wie amüsieren uns (indem wir z.B. einen Hanswurst auf den Präsidentenstuhl setzen und 'einfach mal' zuschauen, was passiert).
Neil Postman hat für diesen Prozess schon 1985 eine angemessene, wie sich derzeit erweist geradezu prophetische Formulierung gefunden: "Wir amüsieren uns zu Tode."