Wer sieht was wie?

An dieser Stelle war schon des Öfteren die Rede davon, dass Sehen kein rein optischer, sondern vor allem ein kultureller Vorgang ist. Auch in meinen Büchern bin ich immer wieder darauf eingegangen. Mit diesem Text möchte ich noch einen weiteren Aspekt ansprechen. Und der hat mit dem Aspekt der "Geschwindigkeit" zu tun, mit dem ich mich im Rahmen meines derzeit entstehenden Buchs über William Turners Bild "Regen, Dampf und Geschwindigkeit" beschäftige. Diesmal soll es ein betont kurzer Text sein, der mehr zum Nachdenken anregen als Informationen vermitteln soll. (Ganz nebenbei zeigt er vielleicht auch, dass unsere Beschäftigung mit Kunst keineswegs ein rein elitärer, weltabgehobener Spleen ohne Relevanz für unser soziales Leben ist, sondern, richtig verstanden, dieses Leben entscheidend mitgestalten kann.)

 

 

Bewegte und nicht bewegte Bilder

 

Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass das bewegte Bild - zunächst auf der Filmleinwand, seit einem guten halben Jahrhundert massenweise über die Fernsehbildschirme - ein technischer Fortschritt gegenüber der Einzelfotographie oder gar dem gemalten Bild ist.

 

Aber die Frage stellt sich: Gilt das auch für den Menschen? D.h. wirkt sich dieser 'Fortschritt' positiv auf den Menschen aus? Führt er zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Frieden, zu weniger Hunger auf der Welt?

 

Wir sprechen nicht umsonst vom 'Konsumenten' dieser Bilder. Was drückt diese Formulierung aus?

 

Würden wir angesichts eines mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Betrachter eines Bilds ebenso vom 'Konsumenten' sprechen?

 

Warum nicht?

 

Weil dieser Betrachter mit dem Bild ganz anders umgeht.

 

 

Der verletzte Tristan wird von Isolde gefunden; aus dem sog. Tristanzyklus ("Tristan und Isolde") (Terraverdemalerei), um 1410; Bozen/Burg Runkelstein, Sommerhaus

 

 

Literaturverfilmungen

 

Die meisten von uns haben es schon erlebt, dass ein Buch, das sie sehr gut kennen und mögen, verfilmt wurde. Das Ergebnis, auf das man sich anfangs vielleicht gefreut hat, ist fast immer eine Enttäuschung.

Warum?

Weil der Film meist ziemlich anders aussieht als das, was die Fantasie bei der Lektüre des Buchs erschaffen hatte.

 

Der mittelalterliche oder frühneuzeitliche Betrachter eines Bilds hatte meist nur dieses eine Bild, ob es nun in sakralem oder profanen Kontext stand (wie das oben gezeigte Bild aus Burg Runkelstein). Es erzählte nicht so sehr eine ganze Geschichte in all ihren Details, als dass sie Erinnerungsstütze war - eine Anregung, sich die ganze Geschichte in all ihren Details vorzustellen. Die Fantasieleistung, die eigene Imagination war also nicht nur erwünscht, sondern geradezu notwendig. Nur so konnte der Betrachter des Bilds sich die ganze Geschichte 'erzählen lassen': indem er sie in seiner Fantasie abspielen ließ.

 

Die Erfindung der Fotographie beschränkte bereits diese Fantasieleistung. Wie weniger reizvoll wäre es, wenn wir Fotos von Jesus Christus, von Michelangelo oder von Rembrandt hätten. Es macht einen nicht geringen Reiz aus, sich Bilder dieser Persönlichkeiten selbst zu erschaffen.

 

Was aber macht der Film?

 

Es gibt nicht wenige Theorien, die dem Film ausdrücklich bescheinigen, dass er die Fähigkeit zu eigener, kreativer, gedanklicher Tätigkeit, zu (aktiver) Vorstellung abtötet. Die Fantasieleistung wird hier so sehr heruntergefahren, wenn nicht verhindert, dass wir geradezu von ihrem Ende sprechen können. Sie ist nicht mehr erwünscht. Stattdessen nur noch der (passive) Konsum, der inzwischen auf hunderten von Kanälen 24 Stunden am Tag möglich ist - als ginge es darum, den Menschen unter allen Umständen dauerhaft vom Selbstdenken, von aktiver Gedankentätigkeit abzuhalten.

 

 

Gesellschaftlich gesehen ...

 

... reicht dieser Vorgang wesentlich weiter als nur bis zum Fernsehen.

 

Wir sind es nicht mehr gewohnt, unsere Fantasie einzusetzen (und dafür auch noch Verantwortung zu übernehmen). Fantasie aber ist nichts anderes als Weiterdenken, als die Fähigkeit, sich etwas plastisch vorzustellen, etwas zu durchdenken - bis zum Ende, bis zu den Konsequenzen, die ein spontaner Einfall, eine Idee vielleicht haben wird (und die sich am Ende vielleicht als nicht so toll herausstellen wird, wie sie im ersten Augenblick schien). Stattdessen lassen wir uns unterhalten, wir konsumieren, wie amüsieren uns (indem wir z.B. einen Hanswurst auf den Präsidentenstuhl setzen und 'einfach mal' zuschauen, was passiert).

 

Neil Postman hat für diesen Prozess schon 1985 eine angemessene, wie sich derzeit erweist geradezu prophetische Formulierung gefunden: "Wir amüsieren uns zu Tode."

 

 

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