Tatsächlich begegnet das Phänomen der nach vorn aus dem Bild herausragenden, die Schwelle zwischen Bild- und Betrachterraum überschreitenden Gegenstände an sehr vielen Beispielen gerade im 15. Jahrhundert, und dies vor allem in Italien und in den Niederlanden, wie wir an Mathis Gothart Niethart gesehen haben aber auch in Deutschland.
Lorenzo Costa, Ein Konzert, um 1485-95; London, National Gallery
In "Ein Konzert" von Lorenzo Costa beispielsweise liegt ganz vorn auf der breiten Marmorbrüstung, die den Betrachter- vom Bildraum trennt, ein kleines, gambenartiges Instrument, das deutlich nach vorne über die Brüstung hinausragt. Hier ist der Effekt vielleicht nicht so auffällig wie bei Carlo Crivellis Gurke (vgl. Die Grenzen von Kunstwerken - Teil 1), aber es ist dennoch derselbe.
Hinzu kommt ein zweites. Denn Costa überschreitet diese Grenze außerdem durch die Stimmen der Sängerin und der beiden Sänger, auf die er durch die weit geöffneten Münder ausdrücklich verweist, obwohl es einem Paradox gleichkommt, mit den Mitteln der Malerei Musik darstellen zu wollen. Zwei von ihnen sehen dabei den Betrachter sogar an, so dass der akustische Aspekt der Grenzüberschreitung durch die Blicke der Akteure im Bild noch unterstützt wird.
Darüber hinaus wird deutlich, dass auch die ganz an den vorderen Bildrand gerückte Brüstung, so sehr sie auf den ersten Eindruck trennend wirken mag, eigentlich ebenfalls ein Element ist, mit deren Hilfe der Maler den vorderen 'Bühnenrand' nicht nur markiert, sondern ihn auf diese Weise eben auch überschreitbar macht. Das geschieht nicht allein durch die Hände und Gegenstände, die auf ihr abgelegt werden.
Antonello da Messina, Salvator mundi/ Segnender Christus, 1465; London, National Gallery
In diesem Bild von Antonello da Messina bedient sich der Maler wiederum eben dieser Brüstung. Dabei geht er höchst eigenartig vor.
Auf den ersten Blick scheinen wir uns genau auf der Augenhöhe der dargestellten Christus-Figur zu befinden, die uns aus dem Bild frontal anschaut. Wenn wir jedoch die Brüstung genauer betrachten, dann gewinnen wir den Eindruck, als wenn sie in Untersicht wiedergegeben worden wäre: die linke Hand Christi liegt darauf, doch der Handballen verschwindet hinter ihr. Die Augenhöhe des Betrachters muss sich also tatsächlich noch unterhalb der Oberseite der Brüstung befinden. Antonello da Messina setzt hier also ganz offensichtlich (mindestens) zwei Horizonte ein, wenn er sich von der Vorstellung eines einheitlichen Horizonts nicht noch radikaler verabschiedete.
Auf diese Weise wird aber gerade jene Brüstung betont, die wie eine Barriere trennend zwischen dem Bild- und dem Betrachterraum steht. Hier finden sich einerseits Spuren, wie sie uns bereits aus Jan van Eycks "Leal souvenir" (Jan van Eyck, Leal souvenir/ Porträt eines jungen Mannes [Timoteos], 1432; London, National Gallery) bekannt sind: Spuren der Verwitterung, des Vergehens des Steins; tatsächlich ist die Kunstgeschichte seit Giorgio Vasari (1511-1574) davon überzeugt, dass Antonello Werke Jan van Eycks und Rogier van der Weydens kannte (wenn auch wohl nicht aus Flandern, wie Vasari annahm, sondern aus Italien), was bedeutet, dass ein solcher Bezug mit großer Sicherheit ganz bewusst hergestellt wurde.
Andererseits bringt Antonello an eben dieser Brüstung, deren Vorderseite den 'Bühnenrand' markiert, einen Zettel an, den er als Trompe-l’œil so gestaltet, dass er nicht allein logisch, sondern auch optisch aus dem Bild nach vorn herauszuragen scheint (wenn auch nur minimal). Der Betrachter wird gewissermaßen versucht, nach ihm zu greifen.
Eines der bekanntesten Beispiele für diesen sehr häufig auftretenden 'Kniff' ist Giovanni Bellinis Porträt des Dogen Leonardo Loredan aus der Zeit nach 1501.
Giovanni Bellini, Der Doge Leonardo Loredan, nach 1501; London, National Gallery
Auch hier wird die würdevolle Gestalt des Herrschers von Venedig durch die Brüstung vom Betrachter abgeschirmt, und in diesem Fall können wir nun auch beobachten, wie der Maler bewusst eine Überschreitung zumindest dieser Brüstung, dieser Barriere zwischen dem Patrizier und dem Betrachter vermeidet: keine Hand liegt darauf (die von oben gezeigt wird, von einem einheitlichen Horizont in der Höhe der Augen des Dogen), der Patrizier verbleibt vollständig hinter der Barriere, was noch durch seinen Blick betont wird, der nicht den Kontakt zum Betrachter herstellt, ihn sogar geradezu zu verweigern scheint.
In diesem Fall scheint der Zettel, den Giovanni Bellini an der Vorderseite der Brüstung gemalt hat, diese sorgfältige Bewahrung hoheitsvoller Distanz geradezu zu unterlaufen. Denn auch er ist sorgfältig als Trompe-l’œil gestaltet und macht auf diese Weise die Räumlichkeit deutlich, ja spürbar, die bereits dem Raum vor dem Bild angehört. Trotz seines Bemühems um Distanz rückt der Doge dem Betrachter auf diese Weise wieder ein Stückchen näher.
Wenn eine solche Betrachtung der kleinen Zettelchen an der Brüstung vielleicht als spitzfindig erscheinen mag - man könnte auch sagen, dass Giovanni Bellini besonders subtil vorgeht -, so gibt es eine Reihe von Bildern, an denen diese Überschreitung der Brüstung und damit der trennenden Barriere auf sehr viel auffälligere Weise geschieht.
Ein besonders gutes Beispiel dafür ist der italienische Maler Alviso Vivarini, denn in seinen Bildern taucht genau dieses Phänomen in schöner Regelmäßigkeit auf. Im Fall der "Verehrung des Christuskinds" aus der Zeit um 1500 begegnet wiederum die Brüstung, auf der nun aber Putti sitzen und ihre Beine nach vorn in den Betrachterraum hinein hängen lassen. Sie machen die Brüstung buchstäblich überschreitbar.
Alviso Vivarini, Verehrung des Christuskinds, um 1500; Venedig
Giovanni Bellini, Pietà, um 1460; Mailand, Pinacoteca di Brera
Und während in Giovanni Bellinis berühmter "Pietà" in der Mailänder Brera die gesamte Figurengruppe Christus-Maria-Johannes noch hinter der Barriere verbleibt und nur die linke Hand Christi gemeinsam mit dem einen Schatten werfenden Licht und dem Zettel an der vorderen Brüstungswand die potentielle Überschreitbarkeit der Barriere andeuten,
geht er in seiner Engel-Pietà eben diesen Schritt weiter und verdeckt die Barriere, auf der der tote Christus nun sitzt, und lässt dessen Beine nun nach vorn über die Barriere hinweg unmittelbar in den Betrachterraum hinein ragen. Gerade der Vergleich dieser beiden Formen der Pietà mit Christus hinter und auf der Brüstung macht die Wirkung auf den Betrachter deutlich, der einmal auf Distanz gehalten wird, wenn auf subtile Weise diese Distanz auch gelockert wird, das andere Mal aber buchstäblich mit in das Bild hineingenommen wird bzw. das Bild über seinen eigenen Rahmen hinweg in den Betrachterraum hinein ragt.
Giovanni Bellini, Engel-Pietà, um 1480-85; Berlin, SMB-PK, Gemäldegalerie
Die Distanz war einst die gängige Form des Bilds bzw. des dargestellten Raums gewesen. Die dargestellte Szene war grundsätzlich ein ganzes Stück hinter dem vorderen 'Bühnenrand' angesiedelt, der räumliche Abstand, der auf diese Weise zwischen der Darstellung und dem Betrachter geschaffen wurde, für den Betrachter selbstverständlich. Eine Einbeziehung des Betrachters, gar das Nachdenken über die Grenze zwischen Bild- und Betrachterraum bzw. ihre Überschreitung ein Phänomen, das erst die fortgeschrittene Entwicklung der Malerei kennzeichnet.
Jacopo Bellini und Werkstatt, Beweinung Christi; Venedig, Dogenpalast
Die "Beweinung Christi" von Jacopo Bellini, des Vaters von Giovanni (und Gentile) Bellini, zeigt diesen Ausgangspunkt des Wegs deutlich auf. Hier ist die Barriere noch ein Sarkophag, der in einer Landschaft steht und als solcher in den Bildraum hinein, gewissermaßen nach hinten gerückt ist, so dass ein deutlicher Streifen Raum entsteht zwischen diesem Sarkophag und dem vorderen 'Bühnenrand.' Durch die Anbringung der Wappen erscheint er zwar irgendwie problematisch, aber es bleibt eindeutig, dass die dargestellte Szene räumlich weit vom Betrachter entfernt ist.
Und das eben kennzeichnet den Bildaufbau und das Verhältnis des Bilds zum Betrachter dieser Frühzeit, noch der Generation von Bellini-Vater Jacopo (um 1400-1470): Bühne und Betrachter sind räumlich strikt voneinander getrennt, der Betrachter bleibt im wahren Wortsinn außen vor. Eine Annäherung hatte bis zu diesem Zeitpunkt (zumindest in Italien) nur über die Ikone, das östliche Kultbild stattgefunden. Die Problematisierung beschäftigte im Verlauf des 15. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Künstlern und sie führte zu den unterschiedlichsten Lösungen.
Hugo van der Goes, Anbetung der Hirten, um 1480; Berlin, Gemäldegalerie
Ganz besonders spannend, weil hochkomplex, ist beispielsweise die Lösung, die Hugo van der Goes in seiner "Anbetung der Hirten" fand. Er trennt die dargestellte Szene aus dem Weihnachtsgeschehen zwar vom Betrachterraum, indem er einerseits das Fußbodenniveau des Bildraums - wie eine wirkliche Bühne - so anhebt, dass mindestens zwei oder drei Stufen dazwischen sein müssen; zudem bringt er einen Vorhang an, der rechts und links deutlich in die Szene hineinreicht und auf diese Weise die Grenze zwischen den beiden Räumen optisch überdeutlich macht. Andererseits positioniert er an den Bildrändern zwei Männer, die ostentativ den Vorhang beiseite schieben; sie stehen eindeutig vor den Stufen, auf dem gleichen Fußbodenniveau also wie der Betrachter, und der eine von ihnen sieht den Betrachter sogar an und die Geste seiner rechten Hand ist ohne weiteres als eine Einladung zu verstehen - eine Einladung, die Grenze, auf der die beiden unter dem Vorhang stehen, zu überschreiten und über die beiden Stufen in den Raum, den die Hirten von hinten betreten haben, von vorn einzutreten.
Die Grenzen der Kunstwerke sind also seit dem 15. Jahrhundert nicht mehr so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. In Italien wie in den Niederlanden werden unterschiedliche Strategien entwickelt, wie die Grenze zum Bildraum, der nach vorne hin durch die untere Kante des Bilds festgelegt ist, überschreitbar gemacht werden kann. Wieder einmal scheint Jan van Eyck einer der ersten zu sein, der darüber nachdenkt und Möglichkeiten vorführt, doch tut er dies mit einer Subtilität und und zugleich mit einer solchen Raffinesse und auf so unterschiedliche Weisen, dass gut vorstellbar ist, dass er nicht der allererste war, der sich damit beschäftigte.
Kommentar schreiben