In meinem Blog-Text vom 08. August habe ich in einer Randbemerkung das erwähnt, was der Kardinal Niccolò Albergati (1373-1443) wohl sah, wenn er morgens in den Spiegel schaute.
Ich habe sogar behauptet, dass sich das erheblich von dem unterschieden haben dürfte, was Jan van Eyck (1390-1441) bei einer Sitzung in den 1430er Jahren gesehen und was er in seiner Silberstiftzeichnung festgehalten hat, die das Porträt vorbereitete, das sich heute im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet (Abbildung siehe am Ende dieses Texts).
Jan van Eyck, Kardinal Niccolò Albergati (Silberstiftzeichnung), um 1432 oder um 1438; Dresden, Staatliche Kunstsammlung, Kupferstichkabinett
Ich möchte diesen Gedanken noch ein Stückchen weiterführen und sogar eine weitergehende Behauptung aufstellen: dass wir nämlich keinerlei Möglichkeit haben, das zu überprüfen.
Um sich klarzumachen, wie ich auf eine solche Behauptung komme, ist es sinnvoll, sich zunächst einmal zu vergegenwärtigen, was wir eigentlich vor uns haben, wenn wir die Zeichnung des Kardinals ansehen. Es handelt sich dabei nicht um eine Fotographie oder eine andere, auf technische Weise entstandene Abbildung des augenblickshaften, äußeren Erscheinungsbilds der dargestellten Person. Stattdessen handelt es sich um eine von Menschenhand angefertigte Zeichnung.
Wie aber entsteht eine Zeichnung?
Indem ein Künstler - dessen handwerkliche Fähigkeit außer Frage steht - einen Stift zur Hand nimmt und das zeichnet, was er ...
ja: was?
Was genau zeichnet er?
Was er vor sich hat?
Wir wissen von nicht wenigen Porträts, dass sie - um es vorsichtig zu formulieren - nicht in jedem Fall und vollständig dem entsprachen, was der Maler vor sich hatte, als der oder die Porträtierte Modell saß. Porträtmaler mussten über Jahrhunderte hinweg die Kunst beherrschen, so wirklichkeitsgetreu zu malen, dass die dargestellte Persönlichkeit für diejenigen, die sie kannten, wiederzuerkennen war, aber zugleich so idealisierend, dass die Persönlichkeit sich geschmeichelt fühlte (oder gegebenenfalls sogar, dass das Amt, das sie verkörperte, nicht geschädigt wurde; Goya beispielsweise ging in manchen seiner Porträts sehr nahe an diese Grenze heran).
Franz Xaver Winterhalter, Königin Isabella II. von Spanien, 1852; Freiburg i.Br., Augustinermuseum
Malte Jan van Eyck im Fall des Kardinals also das, was er vor sich hatte?
Vielleicht. Gerade Jan van Eyck zeichnet sich nach allgemeiner Meinung der Fachleute ja dadurch aus, dass er fasziniert war von den Möglichkeiten der wirklichkeitsgetreuen Darstellung durch die Ölmalerei und dass er diese Art der Darstellung auch besonders gut beherrschte.
Aber können wir das irgendwie überprüfen?
Um diese Frage zu beantworten, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, was Sehen eigentlich ist, wie also Sehen funktioniert.
Ohne über Gebühr ins Detail der optischen Prozesse gehen zu wollen, lässt sich sagen, dass der physikalische Vorgang des Sehens nach heutiger Überzeugung so abläuft, dass die durch die Augenlinse auf die Netzhaut treffenden Bilder der Wirklichkeit an der Netzhaut in elektrische Impulse umgewandelt werden, um von hier aus weiter ins Gehirn transportiert zu werden. Das bedeutet also: Hier wird das Bild zerlegt.
Wir können uns diesen Vorgang ähnlich wie die Umwandlung der Bilder in Pixel vorstellen, die im Innern einer Digital-Kamera vonstatten geht. Nicht die Bilder als ganzes, sondern die in Einsen und Nullen umgewandelten, einzelnen Punkte werden von hier aus weiter transportiert. Jedem einzelnen von ihnen wird seine Position im Bild und ein bestimmter Farbwert zugesprochen und wird auf diese Weise transportabel. - So in etwa stellt man sich heute auch jenen Vorgang vor, der stattfindet, bevor das 'Bild' durch den Sehnerv zum Gehirn weiter transportiert wird.
Die für uns entscheidende Frage aber lautet: Wie wird aus dieser Datenflut wieder ein Bild?
Bei der Digitalkamera ist dieses verhältnismäßig einfach: Gewissermaßen im 'Gehirn' der Kamera werden die Daten ausgelesen und den Informationen, die sie transportieren, entsprechend wieder zusammengesetzt.
Im Fall des Sehens eines Bilds durch einen Kunstliebhaber wäre dieser Vorgang beispielsweise bei einem Bild von Josef Albers noch nachvollziehbar. Albers' Hommage to the Square könnten wir noch so in Worte umwandeln, dass es gelingen könnte, diese Worte nach ihrer Übertragung in ein anderes Gehirn bzw. Bewusstsein wieder in ein Bild zurückzuverwandeln.
Josef Albers, Homage to the Square, 1959; Frankfurt am Main, Schirn
Sobald das Bild aber ein wenig komplizierter wird, wird diese Aufgabe schwieriger. Spätestens bei einem Bild von Jackson Pollock erscheint es uns gänzlich unmöglich.
Jackson Pollock, Aus dem Gewebe; Number 7, 1949; Öl-Schmelzfarben auf Masonit-Platte, 1949; Stuttgart, Staatsgalerie
Während wir bei Albers jedem einzelnen Element des Bilds noch einen 'Wert' zumessen konnten - bestehend aus Farbe, Größe und Position auf der Bildfläche -, ist eben dies bei den rein intuitiv, willkürlich ausgeführten "Drippings" von Pollock vollkommen unmöglich. Was das 'digitale Gehirn' angesichts eines solchen Bilds noch vermag, ist für das menschliche Gehirn nicht mehr zu leisten. Der Transformationsprozess ist dermaßen kompliziert, dass er allein von den Datenmengen her das menschliche Gehirn überfordert. Dabei entspricht das Pollock'sche Bild was die Menge und (Un-)Systematik der Daten angeht sehr viel mehr der Realität, die wir jeden Augenblick um uns her wahrnehmen, als es ein Bild von Joseph Albers tut.
Wie also geht unser Gehirn mit diesen Datenmengen um? Wie verarbeitet es sie? Oder wieder zurück zu unserer Frage: Wie wird aus dem Bild, das auf der Netzhaut umgewandelt wird in elektrische Signale, in unserem Bewusstsein wieder ein Bild?
Kurz gesagt: Das Gehirn interpretiert. Es wählt aus, was ihm wichtig erscheint, eliminiert, was nur nachgeordnet wichtig ist, und setzt nur so viele Daten wieder zusammen, wie es eben verarbeiten kann und wie es ihm sinnvoll erscheint.
Wir können das bei der Schilderung einer plötzlich und sehr schnell verlaufenden Begebenheit wie beispielsweise einem Unfall eindrucksvoll nachvollziehen. Wenn 10 Personen den Unfall beobachtet haben, werden sich alle 10 Personen auf unterschiedliche Weise erinnern, unterschiedliche Details schildern - und einen großen Teil davon falsch. Während der eine Beobachter darauf schwört, dass das Auto rot gewesen sei, erinnert sich eine andere Person an das gleiche Auto als ein grünes. Das Gehirn hat in einem Sekundenbruchteil eine (über-)große Menge an Daten aufgenommen und während die Person versucht, sich zu erinnern, ist das Gehirn fieberhaft damit beschäftigt, die zunächst unverbunden gebliebenen, elektronischen Reize wieder zu einem Bild zusammenzusetzen. Und dies geschieht durchaus nicht immer richtig - wie aus Gerichtsverhandlungen mit Zeugenbefragungen inzwischen hinlänglich bekannt ist -, auch wenn die Personen subjektiv davon überzeugt sind, dass sich der Unfall genau so abgespielt hat, wie sie ihn beschreiben, dass er kurz so war, wie sie ihn schildern.
Dies aber ist eben der entscheidende Irrtum. Der Beobachter verwechselt das Bild, das ihm sein Gehirn in seinem Kopf aus den blitzschnell übertragenen Daten - aufgrund seiner Erfahrungen und Erwartungen - zusammensetzt, mit dem, was in der Realität vor seiner Netzhaut tatsächlich passiert ist, und übersieht dabei die Interpretationsleistung, die das Gehirn in dem Moment erbracht hat, in dem es sich an den Hergang der Geschehnisse hat erinnern müssen.
Erinnerung aber heißt Interpretation. Und jedes Sehen ist eine Form der Erinnerung, denn strenggenommen ist das, was im Gehirn an Impulsen ankommt, Ergebnis eines Ereignisses, das sich vorher ereignet hat, das also bereits vergangen ist, wenn die Impulse das Hirn erreichen.
Sehen ist also per se eine Form der Interpretation. Was in unserem Gehirn ankommt, ist, ohne dass wir es willentlich beeinflussen könnten, Ergebnis einer gleich zweifachen Transformation: vom Netzhautbild in elektronische Impulse und von elektronischen Impulsen wieder zurück in ein Bild vor unserem inneren Auge.
Dies alles geschieht natürlich blitzschnell - aber woher wollen wir eigentlich wissen, dass es richtig geschieht? Die sog. Farbenblindheit beispielsweise ist ein Zeichen dafür, dass wenigstens einer der beiden Transformationsprozesse nicht zwangsläufig ist. Und wer will eigentlich entscheiden, wer richtig sieht: der, der etwas als rot, oder der, der es als grün sieht?
Vor diesem Hintergrund klingt nun unsere Frage nach dem, was Jan van Eyck sah, als Kardinal Albergati ihm gegenüber saß, verändert. Jetzt verstehen wir, dass die Silberstiftzeichnung strenggenommen nicht etwa das wiedergibt, was außerhalb des Kopfs des Malers stand, sondern jenes Bild, das van Eycks Bewusstsein nach der doppelten Transformation zunächst in elektische Impulse und dann - vor allem - in ein Bild vor dem 'inneren Auge' des Malers erschaffen hat. Denn so müssen wir es nennen: Jeder optische Eindruck, der durch die Linse auf die Netzhaut unseres Auges fällt, muss von unserem Gehirn aufgrund der elektischen Impulse, die bei ihm ankommen, neu erschaffen werden. Dazu braucht es keine willentliche Entscheidung, so funktioniert der Vorgang des Sehens - jedenfalls soweit wir ihn nach dem heutigen Stand der Wissenschaft verstehen.
Das heißt: Jedes 'Bild', das wir sehen - und wenn es der Blick auf meinen Schreibtisch ist, während ich diesen Text schreibe -, ist Ergebnis der Interpretation, die unser Gehirn vornimmt, um die elektischen Signale, die durch den Sehnerv bei ihm ankommen, in ein Gesamtbild zurückverwandeln. Für diese Interpretation verwendet das Gehirn die Erfahrungen, die es bisher gemacht hat und die ihm beispielsweise helfen, in der länglichen Form auf der rechten Seite der Tischplatte einen Stift zu erkennen, mit dem ich schreiben kann. Wenn es sich dabei um einen Gegenstand handelt, den das Gehirn nicht kennt, wird es ihn erst untersuchen müssen, um Erfahrungswerte zu erhalten. Bis dahin wird es die elektrischen Signale aufgrund jener Erfahrungen zu interpretieren versuchen, die es aus anderen Zusammenhängen kennt - und dabei möglicherweise in die Irre gehen.
Und genau so ging Jan van Eyck, vielmehr: sein Bewusstsein vor, als er den Kardinal, mit dem er sich aufgrund ihres gemeinsamen Berufs des Diplomaten vielleicht besonders gut verstand, porträtieren sollte. Schon das Bild, das er vor seinem 'inneren Auge' hatte, unterschied sich von dem, was er tatsächlich in der Realität vor sich hatte, denn es war bereits Ergebnis der Interpretation. Bei der Umwandlung in die Zeichnung geschah eine zweite Interpretation.
Und so stellt das Bild, das am Ende als Porträt des Kardinals herauskam, mindestens die dritte Interpretation der ursprünglichen, optischen Eindrücke dar, die von der äußeren Erscheinung des Kardinals über die Netzhaut und den Sehnerv an das Gehirn des Malers gesandt worden sind. Ob und wieviel diese mit der tatsächlichen Erscheinung des Kardinals zu tun hatten, lässt sich aufgrund dieser Zusammenhänge kaum mehr verlässlich sagen.
Jan van Eyck, Kardinal Niccolò Albergati, ca. 1432 oder um 1438; Wien, Kunsthistorisches Museum
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