Nicht nur 2 verschiedene Kunst- sondern Weltanschauungen

#Nationalismus ist aus heutiger Sicht ein Zeichen von Engstirnigkeit und Ignoranz. Etwas kann nicht allein deswegen gut sein, weil es deutsch, oder schlecht, weil es französisch ist.

 

Aus den Briefen und Dokumenten Julius Meier-Graefes geht allerdings hervor, dass genau diese Einstellung die Zeit um 1900 sowohl auf deutscher wie auf französischer Seite so sehr prägte, dass beispielsweise Rémy de Gourmont (1858-1915), ein Schriftsteller und Essayist, seine Stelle als Angestellter der Bibliothèque Nationale in Paris verlor, weil er im April 1891 einen Artikel im 'Mercure de France' veröffentlichte, der als "vaterlandsfeindlich" angesehen wurde. (1)

 

Ähnlich erging es #Meier-Graefe.

 

Nachdem er 1890 mit 23 Jahren nach Berlin übergesiedelt und dort mit dem Publizieren zunächst literarischer Texte begonnen, 1894 die Zeitschrift PAN gegründet und sein erstes kunsthistorisches Buch geschrieben hatte, siedelte er 1896 nach Paris über und beschäftigte sich auf vielfältige Weise mit vor allem französischer Kunst. 1897 gründete er die Zeitschrift 'Dekorative Kunst', die erste auf Gebrauchskunst spezialisierte Zeitschrift, die sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch erschien. Seine folgenden Publikationen, u.a. über Edouard Manet und über den Impressionismus, beschäftigten sich überwiegend mit französischen Themen. Auch in seinem im Entstehen begriffenen, dreibändigen Werk 'Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst', stand die französische Kunst im Mittelpunkt. So kommt es, dass er, als er 1904 nach Berlin zurückkehrte, aus deutscher Perspektive als "erzfranzösisch" galt (2) und man ihm sein Interesse an deutscher Kunst nicht glaubte.

So schreibt Alfred Lichtwark, seit 1886 der erste Direktor der Hamburger Kunsthalle, am 20.11.1904 an Hugo von Tschudi, Direktor der Nationalgalerie in Berlin und einer der ersten Museumsdirektoren in Deutschland, die französische Künstler wie Cézanne, Manet, Monet, Degas u.a. ankauften und ausstellten, Meier-Graefe befinde sich in einer schwierigen Lage, da man ihm "seine plötzliche Bekehrung zu Deutschland nicht recht" glaube. (3)

Im Jahr 1905 wird dies sogar noch schlimmer, denn in diesem Jahr veröffentlicht Meier-Graefe eine Abhandlung über Arnold #Böcklin, eine Streitschrift, mit der er den von ihm einst hochgeschätzten Böcklin von seinem Sockel wirft. (4)

 

Die Ressentiments der deutschen gegenüber der französischen Kunst sind uns bereits im Zusammenhang Franz Marcs begegnet. (5) Sie sind aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar, waren zu jener Zeit jedoch offenbar tief verwurzelt. In den Augen vieler kunstinteressierter Deutscher scheint es schon fast eine Art Blasphemie gewesen zu sein, wenn Meier-Graefe an Alfred #Lichtwark schrieb, "für die moderne Kunst" könne man es sich nicht "verhehlen, daß Deutschland zum mindesten nur ein Teil neben anderen Teilen ist." Selbst angesichts der besten modernen Maler aus Berlin und München springe "der ausländische Einfluß immer stärker in die Augen", wobei mit 'ausländisch' in erster Linie wohl 'französisch' gemeint ist. "Wenn wir ihn leugnen, thun wir vielleicht den inländischen Künstlern einen zweifelhaften ökonomischen Gefallen, sicher nicht der Kunst, der wir doch in erster Linie dienen wollen." (6)

 

Diese Äußerungen stehen im Zusammenhang mit einer Ausstellung, die Meier-Graefe zu diesem Zeitpunkt gerade vorbereitete. Es handelt sich um eine große Ausstellung deutscher Kunst, die 1906 als Deutsche Jahrhundertausstellung in der Nationalgalerie Berlin gezeigt wurde.

Die eigentliche Idee stammte wohl von Alfred Lichtwark, jedoch scheint die Verwirklichung auf die Initiative Meier-Graefes zurückgegangen zu sein. Die Hauptbeteiligten an dem Projekt waren neben diesen beiden Hugo von Tschudi als Direktor der Nationalgalerie und Woldemar von Seidlitz (1850-1922), (de facto) Generaldirektor der königlichen Sammlungen Dresden.

Meier-Graefe übernahm dabei offensichtlich nicht nur die Arbeit der Zusammenstellung der auszustellenden Bilder, die er u.a. in Hamburg, Bremen und München fand, sondern auch den Großteil der Textarbeit am Katalog. Davon zeugt u.a. ein Brief Meier-Graefes an Lichtwark vom 5.8.1906, in dem er über die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Texte schreibt und sich angesichts der Masse der ausgestellten und zu bearbeitenden Werke für eine gewisse Oberflächlichkeit der Texte zu entschuldigen sucht. (7)

Und dennoch schreibt Lichtwark am 20.11.1904 an Hugo von Tschudi, seine Vorarbeit sei "sehr dankenswerth", aber es erscheine ihm "gefährlich, wenn der Schein entsteht, daß Meier-Graefe die Zusammensetzung der Ausstellung bestimmt," die Ausstellung also allzu sehr prägt. "Es würde uns unnütze Schwierigkeiten machen. Sie kennen ja unsere Fachgenossen hinlänglich" (8), bei denen Meier-Graefe noch immer als 'Franzosenfreund' galt.

 

Eigentlich sind dies erschütternde Dokumente. Ernsthafte Kunsthistoriker und Museumsdirektoren wie beispielsweise Henry Thode (1857-1920), Professor für Kunstgeschichte in Heidelberg, nahmen Meier-Graefes Buch über Arnold Böcklin zum Anlass, den Nationalismus als ein wesentliches Kriterium für die Beurteilung und Bewertung von Kunst heranzuziehen. So wehrte sich Thode ausführlich gegen "jene einseitige das Fremde proklamierende Kunstauffassung", die er durch Meier-Graefe vertreten sah.(9)

Max Liebermann reagierte auf "Thodes Frechheit" mit drei Briefen, die er am 7.7., 18.7. und 25.7.1905 in der 'Frankfurter Zeitung' veröffentlichte. Darin hieß es u.a. sehr zutreffend: "In dieser ganzen Affaire platzen nicht nur 2 verschiedene Kunst- sondern Weltanschauungen auf einander."(10)

 


Anmerkungen:

(1) Julius Meier-Graefe, Kunst ist nicht für Kunstgeschichte da. Briefe und Dokumente. Hg. und kommentiert von Catherine Krahmer unter Mitwirkung von Ingrid Grüninger, Göttingen 2001, S. 352.

(2) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 47.

(3) Ebenda.

(4) Julius Meier-Graefe, Der Fall Böcklin und die Lehre von den Einheiten, Stuttgart 1905.

(5) Christof L. Diedrichs, Wie unendlich feinere Sinne muss ein Maler haben. Franz Marcs 'Tiger' (= einblicke - Kunstgeschichte in Einzelwerken 4), Freiburg i.Brsg./Norderstedt 2017, besonders S.31ff.

(6) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 34.

(7) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 47f: "Ich schreibe Ihnen das, weil gerade Sie die Güte hatten, mir Mut zu der Arbeit zu machen und ich fürchten muß, daß gerade Sie am meisten enttäuscht sein werden. Aber die kompakte Majorität ist erdrückend."

(8) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 46.

(9) Krahmer/Meier-Graefe 2001 (wie Anm. 1), S. 357.

(10) Zitiert nach ebenda.

 

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