Max Imdahl, Cézanne - Braque - Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Reflexion, Theorie, Methode. Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Gottfried Boehm, Frankfurt am Main 1996, S. 303-380.
Abschnitt IV, S. 319-327.
Georges Braque, Grand nu, 1908; Paris, Privatbesitz
"Ich kann eine Frau nicht in all ihrer natürlichen Anmut porträtieren ... Ich habe nicht die Mittel dazu. Niemand hat sie. Deshalb muss ich eine neue Form von Schönheit entwickeln, jene Schönheit, die sich mir in Begriffen wie Volumen, Linie, Masse, Gewicht offenbart und durch die die Schönheit meinen subjektiven Eindruck interpretiert. Die Wirklichkeit ist ein bloßer Ausgangspunkt für eine künstlerische Komposition, ergänzt durch Empfindung. Sie ruft ein Gefühl hervor, und ich übersetze dieses Gefühl in Kunst. Ich möchte das Absolute aufdecken und nicht nur eine künstliche Frau." (Georges Braque; S. 320; Übers. CLD)
Diese Äußerung Braques ist einer der wenigen theoretischen Texte, die von kubistischen Malern überliefert sind. Imdahl zufolge haben sich die Kubisten eher unfreiwillig auf Theorien eingelassen, meist erst auf Nachfrage. Der zitierte Text stellt "die früheste Interpretation eines kubstischen Bildes durch einen kubistischen Maler dar." (S. 320)
Es ist bereits eine Tradition, die bis in die Renaissance zurückreicht, dass absolute Schönheit nicht in der Realität, der 'Natur', sondern nur in der oder durch die Idee entsteht, durch einen geistigen Akt, der einzelne Elemente dieser absoluten Schönheit zu einem 'Ideal' zusammenstellt.
Während in diesem Sinn die Malerei der Renaissance aber selbstverständlich noch mimetisch verfuhr, sich also an der Wirklichkeit orientierte und gewissermaßen synthetisch-idealisierend vorging, weist der zitierte Satz Braques in eine andere Richtung.
Zunächst leugnet er rundweg die Möglichkeit, eine Frau "in all ihrer natürlichen Schönheit" darstellen zu können, so lange der Maler mimetisch vorgeht, also die Natur bzw. das äußere Erscheinungsbild nachahmt. Beim Eintritt der Idee in die Natur, die Wirklichkeit, muss die Idee notwendigerweise immer Kompromisse (mit der Materie) schließen - absolute Schönheit ist daher unter den Bedingungen der Wirklichkeit nicht möglich. Dem treten jene Kompromisse an die Seite, die der Maler eingehen muss, wenn er die schöne Frau auf die Leinwand überträgt: er muss beispielsweise eine einzige, bestimmte Ansicht auswählen, kann die Frau also nur entweder in der Vorder- oder einer Seitenansicht wiedergeben, immer nur in einer bestimmten Haltung, mit einem bestimmten Gesichtsausdruck etc. "Sowohl in seiner konkreten, das heißt immer nur jeweiligen optischen Gegebenheitsweise wie ebenso im Falle seiner mimetischen Darstellung tritt der eigentlich absolut schöne Körperkanon immer nur jeweils in 'Abschattung' vor Augen." (321) Der optische Eindruck einer solchen Darstellung ist, mit anderen Worten, immer nur ein Ausschnitt, bleibt unvollständig.
Raffael, Porträt der Maddalena Doni, 1506; Florenz, Palazzo Pitti
Entsprechend wendet sich Braque von der mimetischen Darstellung der Schönheit ab - sie bleibe immer relativ, doch Braque geht es um die absolute Schönheit. Als Maler verfährt er stattdessen so, dass er eine 'neue Art der Schönheit' auf der Leinwand erst entwickelt, indem er "ein aus dem subjektiven Gefühl des Malers erschaffenes Ausdrucksäquivalent für jene absolute Schönheit" zu erschaffen sucht. (321)
In seinem Bild "Grand nu" von 1908 löst Braque entsprechend in frühkubistischer Manier den Gegenstand der Darstellung, den Körper der Frau, in Einzelteile auf, beraubt sie auch in ihrer Binnengestaltung weitgehend ihrer mimetischen Bezüge und verwandelt sie stattdessen in "Elemente der Bildkonstruktion" (322). Er befreit diese Element gewissermaßen von dem Zwang, für etwas Anderes zu stehen - für einen durch Malerei nachgeahmten Gegenstand - und entlässt sie in die Autonomie des allein für sich selbst stehenden, künstlerischen, rein optischen Elements.
Allerdings ist der Bezug zur Gegenständlichkeit, ist der Nachahmungscharakter des Bilds noch immer unverkennbar, der Verweis auf einen Frauenakt bleibt noch bestehen. Das ist für den Frühkubismus charakteristisch.
Indessen deckt Imdahl eine "Dialekik" bzw. einen Widerspruch auf, der darin besteht, dass dieses unter der Prämisse der Suche nach absoluter Schönheit stehende Frauenbildnis "gerade nicht schön oder jedenfalls gegen mimetische Schönheitsidealität indifferent ist." (324) Es widerspricht der Erwartung des Betrachters, der angesichts der postulierten 'Suche nach absoluter Schönheit' eher ideale Vorstellungen von Schönheit im Kopf haben mag.
Tatsächlich scheint selbst Imdahl nicht sicher zu sein, ob Braques Konzept, sein erklärter Wille, "durch das Bild selbst evident ausgewiesen ist oder nicht." (324) Dennoch charakterisiert er dieses Konzept, das Braque im Zusammenhang des Bilds "Grand nu" formuliert, als "ein Konzept des Kubismus" schlechthin. (324)
Was Braque - Imdahl zufolge - mit seinem Konzept des Kubismus anvisiert, ist die Erschaffung von absoluter Schönheit auf der Leinwand des Bilds, ohne sie durch die Kompromisse des Ideals mit der Materie zu relativieren. Das war vergleichbar schon in Cézannes Werken begegnet, in denen in den verwendeten, malerischen Elementen der Gegenstandsbezug aufgegeben wurde zugunsten der autonomen Verwendung rein bildlicher 'Sensationen' (im Sinne von Sinneseindrücken).
Paul Cézanne, Le Mont Sainte-Victoire, 1904-06; Basel, Kunstmuseum
"Wie in Cézannes Spätstil die 'sensations colorantes', so sind in Braques frühkubistischem Bild die Volumina, Linien, Massen und Gewichte allererst Funktionswerte der optisch autonomen, um Gegenstandsdarstellung prinzipiell unbekümmerten Bildkonstruktion." (325)
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