Das Schlusskapitel des Bands zu "Tiger" von #Franz Marc fasst die Ergebnisse zusammen, die aus den Beobachtungen am Bild und aus den schriftlichen Quellen, die Franz Marc hinterlassen hat, abzuleiten sind.
An dieser Stelle wird der Text ohne Anmerkungen und ohne die entsprechenden Erklärungen im Glossar vorab veröffentlicht. Ihm folgt außerdem ein Epilog, der einen Blick auf Marcs Werk bietet, wie es sich im Anschluss an "Tiger" entwickelt (Marc und die Abstraktion).
Zur besseren Einordnung des vorab veröffentlichten Kapitels hier das Inhaltsverzeichnis des Bands:
Einleitung: Kunst der Moderne
Was ist die Moderne in der Kunst? – Die andere Seite der Freiheit – Kennzeichen der Kunst der
Moderne
Franz Marcs Tiger I
Beschreibung 1 – Der erste Blick
Franz Marc: Maler am Beginn des 20. Jahrhunderts
Anfänge – Entdeckung der Natur – Neue Ausdrucksmöglichkeiten – Ende der ‚Eigenbrödelei‘
Franz Marcs Tiger II
Künstlerische Mittel – Beschreibung 2 – Lokalfarbe versus
Bildfarbe
Franz Marc in seinen Schriften
Ansatz 1: Das Tier als Chiffre – Ansatz 2: Farbtheorie und Farbsymbolik – Ansatz 3: Wie sieht ein Pferd die Welt?
Franz Marcs Tiger III
Deutung 1: Anthropologischer Subtext – Deutung 2: Gelb und Blau: das weibliche und das männliche Prinzip – Deutung 3: Poesie des
Teichhuhns
Epilog
Franz Marc, Tiger, 1912; München, Städtische Galerie im Lenbachhaus
Text der Vorabveröffentlichung:
Franz Marcs „Tiger“ III
Die Lektüre der Schriften Marcs zeigt, wie lohnend es ist, sie in die Betrachtung seiner Malerei einzubeziehen. Mehr noch: Sie offenbart eine Tiefe und einen Reichtum der Reflexion, die für die Beschäftigung mit dem gedanklichen Hintergrund des Schaffens des Künstlers höchst förderlich ist.
Darin äußert sich zugleich ein entschieden moderner Zug Marcs: Die Kunst der Moderne, zumindest jene seit Cézanne (1839–1906), erschließt sich nicht mehr von selbst. Zwar bleibt es dem Betrachter seit der Wende zum 19. Jahrhundert unbenommen, die Offenheit der Kunstwerke in der ihm persönlich passend erscheinenden Weise zu nutzen und die Bühne des Kunstwerks seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend zu bespielen. Aber wenn wir nach dem fragen wollen, was einen Künstler des fortgeschrittenen 19. oder des 20. Jahrhunderts zu seiner konkreten Formenwahl veranlasst hat, warum er also so arbeitete, wie er arbeitete, und nicht anders, dann kommen wir nicht umhin, uns mit seinem Konzept zu beschäftigen.
Im Übrigen hängt daran auch die Frage nach der modernen, postmodernen und aktuellen Kunst überhaupt: Immer wieder wird danach gefragt, wie eigentlich beurteilt werden kann, ob etwas Kunst ist, reine Dekoration oder sogar ein Bluff. An Franz Marcs auf den ersten Blick dekorativen Werken wird deutlich, dass diese Frage nicht allein durch die Betrachtung seiner Bilder beantwortet werden kann. Was seine Werke zu Kunstwerken macht, sind nicht die Farben und die Harmonie der Komposition. Warum diese Bilder Kunst sind – und warum auch die berühmt-berüchtigten, von Joseph Beuys zurückgelassenen Badewannen, Müllhaufen, Butterberge, Filzmatten und beschriebenen Schultafeln Kunst sind –, hängt mit der Tatsache zusammen, dass dahinter ein künstlerisches Konzept, letztlich eine ganze künstlerische Existenz steht.
Anders gesagt: Wenn einem Galeristen oder Kunstkenner ein Werk präsentiert wird – sei es gegenständlich oder ungegenständlich, abstrakt oder wirklichkeitsgetreu, handle es sich um ein Gemälde, eine Skulptur, eine Installation, ein Readymade* oder gar eine Performance, sei es schön (wie Marcs Werke) oder hässlich (wie die Werke Francis Bacons [1909–1992]) –, mit der Bitte, spontan zu beurteilen, ob dies Kunst sei oder nicht, so steht er vor einer unlösbaren Aufgabe. Denn seit die Kunst um 1800 in die Subjektivität, Individualität und Offenheit entlassen wurde, muss sie, statt durch Schönheit oder die Vollkommenheit der Ausführung zu begeistern, ein künstlerisches Konzept verkörpern, für das eine authentische, dem Anliegen angemessene Form gefunden worden ist. Nur diese Form zu sehen, ohne das dazugehörige Konzept zu kennen, reicht für die Beurteilung als Kunst nicht mehr aus.
Bei Franz Marc wird dies unmittelbar deutlich. So beeindruckt beispielsweise das Bild Tiger durch die Intensität der Präsenz des Tiers und durch ein buntes Farbenspiel – aber ist es deswegen Kunst? Was unterscheidet ein solches Bild von reiner Dekoration? – Warum sind die Fotographien der großen Kunst-Fotographen Kunst, und die Bilder, die wir im Baumarkt samt passendem Rahmen und Passepartout für wesentlich weniger Geld kaufen können, nicht?
Die Antwort lautet: Was moderne, postmoderne und zeitgenössische Kunst zu Kunst macht, ist das Konzept, das ihrem Entstehungsprozess zugrunde liegt. Seine Form muss diesem entsprechen, und wenn das Konzept Unvollkommenheit verlangt, so muss die Form unvollkommen sein.
Ein solches Konzept lässt sich gewöhnlich aber nicht unmittelbar aus den Werken selbst ablesen. Es ist meist nur unter Zuhilfenahme einer größeren Zahl von Werken und weiterer, gegebenenfalls schriftlicher oder mündlicher Äußerungen des Künstlers zu erschließen. Wir würden die Werke von Joseph Beuys noch immer nicht verstehen und schon gar nicht für Kunst halten, wenn wir nicht sein Konzept kennen würden (und wer dieses nicht kennt, hält Badewannen und Fettecken noch immer nicht für Kunst). Und bei Franz Marc steht die dekorative Wirkung seiner Bilder dem Verständnis seines Konzepts sogar im Weg. Vielleicht ist das, neben dem fragmentarischen Charakter des Werks des schon mit 36 Jahren gefallenen Künstlers, der Grund dafür, dass selbst die Forschung angesichts des Marc’schen Werks seltsam oberflächlich bleibt. So fragmentarisch das Werk des Mitbegründers des Blauen Reiters geblieben ist, so unbefriedigend sind noch immer die Erkenntnisse, die man über Franz Marc und seine Kunst hat.
Zumal es Marc selbst dem Betrachter nicht eben leicht macht. Je mehr wir seine Schriften in die Betrachtung und Deutung einbeziehen, desto schwieriger wird es. Marc widerspricht sich selbst, wie sollte die Forschung sich dann einig sein? Einerseits sagt Marc, prismatische Farbigkeit und der Kubismus bedeuteten ihm nichts, an anderer Stelle heißt es, das Prisma sei das wichtigste seiner Werkzeuge, und in Tiger nutzt er eindeutig kubistische Formelemente. Einerseits spricht er den von ihm verwendeten Farben symbolische Werte zu, andererseits sind diese aber in seinen Werken bisher kaum wirklich festzumachen. Aufgrund alles dessen ist eine kongruente, eindeutige Lesart seiner Bilder – auch und gerade von Tiger – nicht möglich.
Aber Marcs schriftlich hinterlassene Aussagen stehen nicht im luftleeren Raum. Wenn der Maler auch seine Reflexionen gelegentlich als „Journalismus“ bezeichnete gegenüber seinem künstlerischen Werk – „nur unser Malen hat Sinn" –, so stehen beide doch zueinander in einer Beziehung, aus der wir für das Verständnis der Bilder einiges entnehmen können. Auch dem Bild Tiger kommen wir auf diese Weise ein Stück näher, können vielleicht gar Bedeutungen darin finden, die sich nicht oder nur schwer erschließen lassen, wenn wir uns auf die bloße Anschauung beschränken.
Allerdings sei gleich zu Beginn dieses schwierigsten Kapitels dieses Buchs gesagt: Die folgenden Ausführungen werden Schlüsse aus Anregungen ziehen, von denen niemand sagen kann, ob sie von Marc genau so beabsichtigt waren. Andererseits müssen wir ihn, wie wir inzwischen wissen, nicht erst um Erlaubnis fragen: Moderne Kunst ist programmatisch offen.
In jedem Fall werden wir versuchen, möglichst nahe an Marcs Vorgaben zu bleiben und so dem, was er sich vielleicht während des Schaffensprozesses gedacht hat, Ansätze für Deutungen des Bilds oder seiner Komponenten zu entnehmen – selbstverständlich ohne einen Anspruch auf Ausschließlichkeit oder Vollständigkeit dieser Deutungen.
Deutung 1: Anthropologischer Subtext*
Marc wählt als Motiv für sein Bild eine Raubkatze. Ob es sich um einen Tiger, einen Panther oder einen Leoparden handelt, mag dahingestellt bleiben, ist wohl auch nicht erheblich. Wichtig ist, dass es sich um ein Raubtier handelt.
Tiere als Metaphern menschlicher Charakterzüge darzustellen, hat schon vor dem zwanzigsten Jahrhundert eine lange Tradition. So erkannte im Mittelalter jeder Betrachter in der Darstellung eines Hunds mühelos den Verweis auf den Neid, im Bild eines Bocks auf die Wollust und im Bären ein Symbol für den Zorn. Sicher gab es neben solcher christlichen Metaphorik auch eine weltliche; vermutlich ist die Holzschnittfolge von Wildpferden, die Hans Baldung Grien 1534 schuf (Abb. unten), in diesem Sinn als verhältnismäßig drastische Darstellung der Dramatik der Triebe, als „eine desillusionierte Begegnung mit der wirklichen Natur des Menschen“ zu verstehen. Das ist umso interessanter, als Reinhard Piper in sein Buch Das Tier in der Kunst, in dem auch Marcs Bronze-Pferdegruppe abgebildet war, einen Holzschnitt aus dieser Folge aufgenommen hatte, so dass wir mit Sicherheit sagen können, dass auch Marc ihn kannte. Gerade die Darstellungen Baldungs zeichnen sich wegen der „anthropomorph* anmutende[n] Mimik“ der Pferde, also durch eine starke ‚Vermenschlichung‘ aus, dem eine entsprechende Metaphorik zugrundeliegen wird.
Hans Baldung Grien, Wildpferde im Wald, 1534 (aus: J. Piper, Das Tier in der Kunst)
Wenn Marc in seinen Tierdarstellungen, wie wir unter anderem seinem Brief vom 22. September 1907 entnehmen, den Menschen mitdenkt oder -fühlt, müsste dies auch für das Bild Tiger gelten. Dann ginge es bei der Darstellung der Raubkatze im Dickicht des Walds, die gestört und aufgeschreckt wird und sich wachsam-lauernd umsieht, um einen kreatürlichen Vorgang, um ‚Natur‘ in der Wahrnehmung des Menschen, so wie van Gogh und Signac – beides keine Tiermaler – es darzustellen vermochten.
Und nun wird interessant, was wir bei unserer Beschreibung beobachtet haben: Was wir auf dem Bild sehen, ist nicht die souveräne Gestalt eines Tigers, der hoheitsvoll-majestätisch um sich blickt oder aggressiv zum Sprung ansetzt. Vielmehr sehen wir das Raubtier vor der Entscheidung zwischen Angriff, Verbleib in der Deckung oder Flucht, in wachsamer Offenheit, alle Sinne gespannt, sich seiner Möglichkeiten wie seiner Grenzen bewusst – ganz mit sich und der umgebenden Natur eins, im inneren Gleichgewicht, in der vollkommenen Totalität seiner Kräfte. Anders als der Mensch es sein mag, ist es sogar souverän genug, den Rückzug anzutreten, wenn es geboten erscheint. Der „organische Rhythmus aller Dinge“, von der Marc spricht, das „pantheistische[] Sichhineinfühlen“ offenbart ihm gerade dieses Einssein, das er künstlerisch ausdrückt, indem er das Raubtier in den gleichen, kubistisch-kristallinen Formen darstellt wie die Natur, so dass die entstehenden Formen und Linien wie auch die Farben ganz natürlich miteinander harmonieren.
Tatsächlich hat man den Eindruck: Legte die Raubkatze ihr Haupt nieder und schlösse die Augen, so ginge sie in den Formen der Natur vollkommen auf.
Ein solches Einssein mit der Umgebung, der ‚Natur‘, ist in Marcs Augen offenbar ein Ideal, das er heraufbeschwört, nach dem er sich sehnt. Auch mit diesen Gedanken ist er nicht der erste. Er befindet sich damit in der Gesellschaft vieler, die die Entfremdung des Menschen im Zuge der Industrialisierung beobachteten. Bereits im 18. Jahrhundert hatte Immanuel Kant darüber nachgedacht, und im Anschluss daran hat Friedrich Schiller in seinen philosophischen Schriften eben diesen verlorenen Zustand innerer Einheit thematisiert. „Es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben“, hatte Schiller 1793/94 geschrieben.
„Wir lieben in ihnen […] das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eignen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst.“
Es ist vermutlich kein Zufall, dass gerade Hinweise auf die innere Notwendigkeit in Marcs Reflexionen zu seiner Kunst immer wieder begegnen. Für ihn verband sich der Gedanke der ‚Notwendigkeit‘ untrennbar mit dem der Einfachheit; so wurde es für ihn das höchste Ideal,
„ein Stück einfachster Natur zu malen und dahinein allen Glauben und alle Sehnsucht hineinzumalen“, ohne vorausgehende, theoretisierende Reflexion, rein instinktiv.
Als Vorbild für ein solches instinktives Schaffen dienten ihm die so genannten primitiven Völker. Diese hatten in Marcs wie in Schillers Augen noch jene innere Einheit, die sie der Natur in ihrem Urzustand zuschrieben. Schon Gauguin und Picasso waren aus dem gleichen Grund von ihnen fasziniert und hatten den ‚Primitivismus‘ als Kunstform geschaffen: das ruhige Wirken aus sich selbst, das Dasein nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst – Schiller hatte eine Rückkehr dorthin unter den Bedingungen der Kultur für nahezu unmöglich erklärt und Gauguin hatte dies in der Südsee am eigenen Leib erfahren müssen. Marc gewährt uns mit Tiger einen kurzen, intimen Blick in diese Welt, aber auch bei ihm bleibt der sehnsüchtige Mensch, der unter seinem Verlust leidet, letztlich davon ausgeschlossen: Er steht hinter einer Barriere und betritt die Welt als Störenfried. Indem er sie betritt, beschädigt er sie, und diese Beschädigung scheint aus der Haltung und dem Blick des Tiers hervorzugehen.
Deutung 2: Gelb und Blau – das weibliche und das männliche Prinzip
In eine andere Richtung weist die Farbsymbolik, die Marc 1910/11 entwickelt hat und die sich in Tiger wiederfindet.
Gelb
Die Raubkatze fällt vor allem durch das leuchtende Gelb seines Fells auf. In seinem Brief vom 12. Dezember 1910 hatte Marc August Macke gegenüber erklärt, dass diese Farbe bei ihm für das „weibliche Prinzip“ stehe. Wenn er dort allerdings davon spricht, dass dieses Prinzip „sanft, heiter und sinnlich“, dass das „Weib als Trösterin, nicht als Liebende“ gemeint sei, so scheint dies über die Darstellung des eher scheuen, zur Flucht oder zum Angriff bereiten Tiers hinauszugehen. Immerhin aber bleibt die Bestimmung im Allgemeinen: Gelb ist „das Weib“, was er an mehreren Stellen des Briefs wiederholt.
Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, spielt die Frau gerade um die Jahrhundertwende in der (von Männern dominierten) Geistes- und Kulturwelt eine ungeheure Rolle. Dabei ist es bekanntermaßen gerade die Widersprüchlichkeit zwischen der Heiligen und der Hure, die die Männerwelt in Aufruhr versetzt.
Franz von Stuck, Professor an der Münchener Akademie und dort Lehrer Kandinskys und Klees, malte um 1913 die Schauspielerin Tilla Durieux (1880–1971) in der Rolle der homerischen Zauberin Circe.
Franz von Stuck, Tilla Durieux als Circe, um 1913;
Berlin, Staatliche Museen Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Nationalgalerie.
Das Bild bringt die ganze Widersprüchlichkeit dieses Frauenbilds zum Ausdruck: Die Zauberin mit dem flammendroten, geradezu lodernden Haar und auf Zerbrechlichkeit hinweisenden, blassen Teint ist so schön, wie der Kontakt mit ihr tödlich ist. Im Bild neigt sie sich dem imaginierten Besucher scheinbar unterwürfig, mit weit herabhängendem Dekolletee zu, doch weiß der mit Homers Odyssee vertraute Betrachter um den unabwendbar-tragischen Ausgang dieser verführerischen Willkommensszenerie.
Die Darstellung eines sprichwörtlich gefährlichen Raubtiers ausdrücklich als „Weib“, das zugleich bedrohlich und tröstend, sanft, heiter und sinnlich auf den Mann wirkt, würde die Ambivalenz des Frauenbilds der Jahrhundertwende in einer Weise treffen, die für Marc nach bisherigem, kunsthistorischem Kenntnisstand überraschend sein mag, angesichts seiner erotischen Verstrickungen mit zeitweilig gleich drei Frauen, von denen er zwei heiratete, aber nur mit einer leben wollte, eigentlich jedoch nur folgerichtig erscheint. Gerade in den Jahren zuvor hatte Marc diese ‚Verstrickungen‘ in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, mit all ihren Reizen und Komplikationen ausgekostet. Der im September 1907 von ihm erwähnte „Tränenhügel“ als Bezeichnung für einen 1906 gemeinsam mit seinen Geliebten Maria Franck und Marie Schnür verbrachten, offenbar leidvollen Aufenthalt auf einer Alm am Kochelsee scheint für Maria und ihn wie ein Mahnmal für eine der besonders bedrückenden Erfahrungen gestanden zu haben. Immerhin datiert Marc zu dieser Zeit den Beginn seiner wirklichen, dauerhaften Liebe zu seiner späteren Frau.
Rot
Zu der in jenem Brief vom Dezember 1910 entworfenen Farbsymbolik gehört darüber hinaus das Rot. Dieses stehe für „die Materie, brutal und schwer“, heißt es dort. Es werde geweckt, wenn Blau und Gelb zu Grün gemischt würden: so erwache das „Rot, die Materie, die ‚Erde‘, zum Leben.“
Tatsächlich haben diese Formulierungen etwas durchaus Animistisches* oder Pantheistisches*, so wie Marc es angekündigt hatte, als er schrieb, er wolle sich „pantheistisch ein[ ]fühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur.“
Es mag Marcs Vorstellung von der „uralten physiologischen Theorie über das ‚Weib‘“ gewesen sein, die ihn dazu bewog, den Unterleib des das Weibliche repräsentierenden Raubtiers in Tiger nicht allein kompositorisch ähnlich zu betonen, wie er es mit dem Kopf tat (vgl. S. 45f), sondern ihn darüber hinaus mit Rot, der Farbe der Erde, der Materie, des Lebens – im weitesten Sinn: des Bluts und der Geburt – zu umfangen. „Gelb (das Weib!)“ stehe „der Erde Rot näher“ als das Blau, hatte er im Brief geschrieben. Es ist die in der männlichen Vorstellung besondere Verbindung der Frau mit der Erde, die sich hier manifestiert. Das dargestellte Tier, zugleich „das Tier ‚Mensch‘“ bzw. das ‚Weib‘, die Frau wird auf diese Weise gekennzeichnet durch ihre besondere Verbundenheit mit der Materie, der Erde, aus der das Tier durch die zum Teil unklaren Abgrenzungen der Farbflächen in diesem Bereich geradezu aufzusteigen scheint.
Blau
Schließlich steht dem Gelb, dem weiblichen Prinzip, im Brief wie im Bild das Blau gegenüber. Blau, so hatte Marc geschrieben, sei das „männliche Prinzip, herb und geistig.“ Blau steht für den Mann. Überträgt man seine weiteren, vordergründig maltheoretischen Ausführungen auf das Verhältnis von Mann und Frau, so ergeben sich interessante Einblicke in das Marc’sche Gefühlsleben: Die ‚Verbindung‘ des kühlen, geistig veranlagten Manns (Blau) mit der Erde (Rot) ist denkbar als ein Hinweis auf Sexualität. Wenn das zutrifft, ist das Ergebnis höchst bemerkenswert, denn die Mischung aus Blau und Rot ergibt Violett, in Marcs Worten Zeichen für „unerträgliche[] Trauer“. Aus dieser kann der Farbtheorie zufolge nur „das versöhnende Gelb“ erlösen: mithin die Zärtlichkeit der Frau.
Auch im Bild spielt Blau – das männliche Prinzip, der Mann – eine wesentliche Rolle. Es bildet jene Barriere, hinter der der Betrachter steht und über die hinweg er in diese ihm nicht zugängliche Welt hinein sieht: die Welt der mit der Materie, der Erde verbundenen Frau.
Aber dieses Blau verbleibt nicht passiv am unteren Bildrand und damit außerhalb des Raums, in dem sich das Raubtier, halb gefährlich, halb verlockend, aufhält. In einer langgestreckten, schmalen Form dringt es bis weit in die gelbe Fläche vor, die den Unterleib des ‚Raubtiers‘ bildet. An seiner Spitze wird es von einem ganz leichten, roten Schimmer wie von einem Nimbus umgeben.
An dieser Stelle liegt ein Blick auf Marcs persönliche Ansichten bezüglich des Körperlichen und – was aufgrund der Quellenlage einfacher ist – des Geistigen nahe. Letztere verbanden ihn eng mit Kandinsky.
Der von einer strenggläubigen, calvinistischen Mutter erzogene Franz Marc, der einst Pfarrer hatte werden wollen und nun mit seinem freizügigen Lebensstil nicht wenig moralische Bedenken auf sich zog, muss die Verstrickung in die ‚Materie‘ zumindest unterschwellig als ‚Befleckung‘ erlebt haben. So will es die christliche Sexualmoral. Zugleich konnte und wollte er sich von der Verführungskraft des ‚Weibes‘ nicht lösen – suchte vielmehr offenbar gerade dort Trost. Vor diesem Hintergrund wird sein Wort von der „unerträglichen Trauer“ des Violett verständlich: Wenn das Geistige, das im Mann (Blau) verkörpert ist, mit der Erde (Rot), die für die Sexualität stehen mag, ‚befleckt‘ wird, wird der Mann von Trauer (Violett) ergriffen – das Violett kennzeichnet im Bild die hinter dem Raubtier aufsteigende, überraschend prägende, aufgrund seiner geometrischen Form aus dem Gesamtgefüge herausragende Pyramide, die die phallusartige, blaue Form am unteren Bildrand aufgreift und sie über das Bild hinaus trägt.
Interessanterweise steht die Frau, dem Bild Tiger und Marcs Farbsymbolik zufolge, zugleich für den Auslöser dieses widersprüchlichen Vorgangs wie für den Trost, der ihn aus der Trauer wieder herausführen kann.
An vielen Stellen in seinen Schriften spricht Marc dem Geistigen eine ausdrücklich reinigende Wirkung zu. Es ist fast auffällig, wie wichtig ihm eine solche Reinigung ist, doch ist sie nicht zuletzt auf der Grundlage des Konflikts zwischen der Bindung an die Materie und dem Streben nach dem Geistigen zu verstehen, das Kandinsky in ihm noch bestärkt haben mag.
Grün
Ob im Übrigen mit dem Grün, das durch die Mischung – man könnte auch sagen: Vereinigung – von Blau (dem Mann) und Gelb (der Frau) entsteht, im Bild ein Ausweg aus der stringenten Bewegung von links unten nach rechts oben und damit metaphorisch aus der Verstrickung in Trauer und Melancholie gemeint ist, mag dahingestellt bleiben.
Von Maria Marc, geborene Franck, ist ihr intensiver, aber unerfüllt gebliebener Kinderwunsch überliefert. Von Marc selbst wissen wir nichts darüber.
Deutung 3: Poesie des Teichhuhns
Der dritte Deutungsansatz führt von Symbolik und Metaphorik zurück zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung: dem Tier. An mehreren Textstellen ist Marcs inniges Verhältnis zur Natur ablesbar.
Es mag eine Frucht der intensiven Beobachtung der Natur gewesen sein, dass er im Laufe der Zeit immer stärker die Distanz empfand, die zwischen dem Erleben der Tiere und dem des Menschen besteht. Manche seiner Äußerungen klingen geradezu ungehalten, wenn er sich und seinen Lesern wie den Betrachtern seiner Bilder die Frage vorlegt, wie eigentlich ein Tier sieht. Dabei ist eine Frage wie
„Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund?“
noch leicht nachvollziehbar, doch die folgende Überlegung ist schon schwieriger zu verstehen:
„Hat es irgendwelchen vernünftigen oder gar künstlerischen Sinn, das Reh zu malen, wie es unsrer Netzhaut erscheint oder in kubistischer Form, weil wir die Welt kubistisch fühlen? Wer sagt mir, daß das Reh die Welt kubistisch fühlt; es fühlt sie als ‚Reh‘, die Landschaft muß also ‚Reh‘ sein.“
Marc versenkt sich in dieser Spätzeit seines Schaffens – die Zitate stammen aus dem Winter 1911/12, also aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Entstehung von Tiger – so sehr in die Erlebniswelt der Tiere, dass er eine Vermenschlichung des Blicks bewusst vermeiden kann. „Ich sah“, so schreibt er Anfang 1915 in einem seiner Aphorismen
„das Bild, das in den Augen des Teichhuhns sich bricht, wenn es untertaucht: die tausend Ringe, die jedes kleine Leben einfassen, das Blau der flüsternden Himmel, das der See trinkt, das verzückte Auftauchen an einem anderen Ort.“
Marc ist in seiner Empathie inzwischen so weit gekommen, dass er meint, sich in das Erleben der Tiere hineinfühlen zu können. „Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen“, so schrieb Else Lasker-Schüler nach seinem Tod über ihn.
Allerdings gibt Tiger kaum ‚objektive‘ Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, wie eine Raubkatze die Welt tatsächlich sieht. Hier mündet das Bild in die angesprochene Offenheit des modernen Kunstwerks. Das Tier mag sich einerseits eins fühlen mit seiner ‚Welt‘, mit der Natur, in der es sich befindet. Andererseits mag es sich bedroht fühlen, was durch die spitzen Formen angedeutet sein könnte, die es umgeben. Zweifellos taucht es sehr tief ein in diese Natur, ist aber zugleich darin nicht allein geschützt, sondern auch bedroht. Es kann selbst aggressiv vorgehen, muss aber ebenso gewärtig sein, selbst angegriffen zu werden. Das Raubtier fühlt die Welt als ‚Raubtier‘, also muss die Landschaft ‚Raubtier‘ sein, um Marcs eigene Formulierung in leicht abgewandelter Form zu verwenden.
Eines hat Marc in diesen Jahren der intensiven Naturbeobachtung in jedem Fall gelernt: er muss seine Sinne bis ins Unendliche schärfen, um auch nur eine Ahnung von der Art und Weise zu bekommen, wie das Tier die Welt sieht. Und als Künstler muss er nach ganz neuen, unverbrauchten künstlerischen Mitteln suchen, um dieser Art des Sehens adäquaten Ausdruck verleihen zu können.
Denn es gibt unterschiedliche Arten des Sehens. Rehe beispielsweise sind Bewegungsseher, sie können nur sehen, was sich bewegt. Auch gibt es bestimmte Farben, die sie nicht sehen können – aber wie sieht die Welt für sie dann tatsächlich aus? Eulen sehen nur, was sich in einiger Entfernung von ihnen befindet. Viele Greifvögel sehen auf extreme Distanz kleinste Einzelheiten, Katzen sehen im Dunkeln und einige Vögel, die von flugfähigen Insekten leben, sehen extrem schnell.
Und dabei ist Sehen nicht allein eine Frage der Optik, sondern ebenso der Erfahrung: Für ein wehrloses Reh bedeutet jede wahrgenommene Bewegung eine potentielle Gefahr und veranlasst zur Flucht, für einen wehrhaften Bären am Wasser ist sie eher ein Zeichen für Beute und zieht ihn an. Die Möglichkeiten scheinen unendlich zu sein.
Franz Marc, Der weiße Hund (Hund vor der Welt), 1912; Schweiz, Privatsammlung
Vermutlich hat sich Marc, als er mit der Arbeit an Tiger begann, gefragt, wie eine Raubkatze die Welt sieht. So ähnlich scheint er es ja im Zusammenhang mit Der weiße Hund (Abb. oben) und Pferd in Landschaft (Abb. unten) getan zu haben, wie auch zweifellos dieser Gedanke die berühmte Gelbe Kuh (1911; New York, Solomon Guggenheim Museum) und den Blauschwarzen Fuchs (1911; Wuppertal, Von der Heydt-Museum) geprägt hat. Vielleicht ist der vermeintlich ins unbestimmbare Nichts weisende Blick des Raubtiers in Tiger Marcs Eingeständnis, dass er nach all seinen Bemühungen die Antwort auf diese Frage in diesem Fall schlichtweg nicht weiß. Viele Hinweise auf dem Bild führen immer wieder zu der Erkenntnis, dass der Mensch ausgeschlossen ist aus dieser ‚Welt‘ und ihrer Art der Wahrnehmung. Wer das Tier nicht vermenschlichen will, muss sich vielleicht irgendwann eingestehen, dass es ‚die Welt‘ nicht gibt, sondern dass der Mensch in seiner Welt lebt und das im Dickicht des Walds versteckte Tier in einer anderen und dass diese unterschiedlichen ‚Welten‘ geprägt werden durch die verschiedenen Arten des Sehens.
Franz Marc, Pferd in Landschaft, 1910; Essen, Museum Folkwang
Wenn der Mensch es dennoch unternimmt, sich der Welt des Tiers zu nähern, so ist es, unabhängig von den Aussichten auf einen möglichen Erfolg, unbedingt notwendig, von sich selbst und seinen eigenen Erwartungen abzusehen und sich stattdessen zu sensibilisieren für die Begegnung mit einer Welt, die nicht ‚Mensch‘ ist und nicht fühlt, wie der Mensch es tut, sondern entweder ‚Reh‘ oder ‚Pferd‘ oder ‚Adler‘ oder ‚Hund‘ – oder eben Teichhuhn oder Raubkatze.
Anmerkung: Die Herkunft der Zitate ist im Buch genau nachgewiesen!
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Jürgen Bartschke (Samstag, 30 Dezember 2017 19:36)
Zum Bild "Der weisse Hund (Hund vor der Welt)" möchte ich bemerken, dass alle Abbildungen und Fotos die Details verschlucken. Wenn Sie das Original betrachten, sollte es Ihnen wie Schuppen von den Augen fallen, wo die "Welt" zu sehen ist. Es ist der zentrale Stein in blau grünen Farbtönen neben den anderen weißen Kieseln. Dies ist unzweifelhaft eine Erdkugel, so wie sie heute aus Weltraumaufnahmen zu sehen ist. Und so sitzt "Der Hund vor der Welt".