Diedrichs liest Imdahl (Teil 13):  Das Falsche als Ausdrucksmittel

Max Imdahl, Eoduard Manets "Un Bar aux Folies-Bergère" - Das Falsche als das Richtige, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1. Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 497-533 (Erstdruck 1986).

 

S. 515-533

Edouard Manet, Un Bar aux Folies-Bergère, 1881/82;

London, Courtauld Institute Gallery

 

Die offensichtlichen 'Fehler', die Manet, wie die vorbereitende Skizze (siehe unten) zeigt, absichtlich in das Bild einfügt und die vor allem die Spiegelungen betreffen, müssen also einen Sinn haben, hinter ihnen muss eine Absicht stecken, anders sind sie nicht zu erklären. Sie bilden den Schlüssel zur Deutung des Bilds. Oder wie Imdahl sich ausdrückt: das Falsche muss das eigentlich Richtige sein.

 

Es scheint nahezuliegen, den Betrachter des Bilds in dem Mann mit dem Zylinder wiederzuerkennen, der ganz am rechten Bildrand zu sehen ist. Auf diese Weise wäre der Betrachter in das Bild selbst integriert, zumal die Spiegelung zeigt, dass das Barmädchen den Zylindermann ansieht, so wie sie vor dem Spiegel den Betrachter ansieht.

Allerdings dürfte in diesem Fall der Zylindermann bzw. Betrachter nicht nach rechts verschoben sein, sondern müsste von dem Barmädchen verdeckt werden, so wie auch ihr eigenes Spiegelbild genau hinter ihr zu sehen oder eben nicht zu sehen sein müsste. Oder anders gesagt: Damit der Betrachter sich selbst im Spiegel sehen könnte, müsste er rechts des Mädchens stehen statt direkt frontal vor ihm. Das ist in der erwähnten Skizze zweifellos der Fall, nicht aber im ausgeführten Gemälde.

Edouard Manet, Un bar aux Folies-Bergére - Skizze, 1881, Amsterdam, Stedelijk Museum

 

"Im Falle der Skizze ist eine solche fiktive Identifikation die eigentliche und zweifellos auch in hohem Maße poetische Bilderfindung, und zwar eine solche, der spiegelungslogische Sachverhalte durchaus entsprechen. Im fertigen, endgültigen Bilde besteht dagegen ein Widerspruch zwischen der verbildlichten Spiegelung und dem interpretatorisch vorgeschlagenen Angebot an den Bildbeschauer, sich dem gespiegelten Mann gleichzusetzen." (515f)

 

Imdahl spricht hier von der "Poesie des Gemäldes" (517), die durch die unmittelbare Einbeziehung des Betrachters in das Bild erzeugt werde und um deretwillen Manet Kompromisse schließt, die zu augenscheinlichen, bildlogischen 'Fehlern' führen. Es würde diese Poesie zerstören, würde Manet beispielsweise eine Rückenfigur zur Verdeutlichung der räumlichen Beziehungen der Figuren einfügen, wie das ein zeitgenössischer Kritiker vorschlug. In dessen Entwurf rückte das Barmädchen aus der Bildmitte heraus und die Rückenfigur ermöglichte dem Betrachter nurmehr einen vermittelten Zugang zum Bild.

 

"Aber ist dies der Bildsinn? Jene Bilddeutung, derzufolge sich der Bildbeschauer mit dem gespiegelten Zylindermann zu identifizieren hat, ist nur eine, gewiß aber nicht die einzige Deutung, und wie verhält sie sich zu den schon angeführten Figurenbildern von Degas und auch von Manet, in denen die Einsamkeit einzelner Personen, nicht aber deren Kommunikation thematisch ist?" (517)

 

Mehrere Standorte des Betrachters vor dem Bild anzunehmen, um die offensichtlich problematische Spiegelung im Bild zu erklären, wäre gewissermaßen ein kubistischer Zugang. Günter Busch hat einen solchen angenommen und von einer "quasi kubistischen Marginalie" gesprochen (519). Werner Hager dagegen nahm ein 'alter ego' des Betrachters an, das gewissermaßen neben ihn trete, wodurch der Betrachter mehr thematisiert würde als das Mädchen: "Der Bildbeschauer selbst hält den auf ihn als Person gerichteten Blick des Barmädchens nicht aus und ist zur Seite getreten als jener gespiegelte Zylindermann." (520)

 

"Doch wie es auch sei, eine eindeutige Interpretation der verbildlichten Szene wird es nicht geben können." Was Manet vor allem anbietet, ist eine klare, im Aufbau streng geregelte Komposition. "Unter formalem Aspekt herrschen demnach kompositionelle Klarheit und Eindeutigkeit." (520) Darüber hinaus verweist gerade diese Komposition auf ältere, künstlerische Traditionen, die in die Richtung eines Andachtsbilds weist. In dieser Tradition, darauf verwies Hand Jantzen, spielt nicht zuletzt das Spiegelbild eine zentrale Rolle: ein Spiegelbild zeigt in dieser ikonographischen Tradition eine Imagination, ein inneres Bild. Auch der verträumte Blick des Barmädchens könnte darauf hinweisen, dass ein realer Dialog in der Wirklichkeit gar nicht stattfindet, dass das Mädchen die Begegnung mit dem Zylindermann tatsächlich nur träumt. "Vielleicht ist es nur das schattenhafte Nachbild einer bereits vorübergegangenen Unterredung."

Jantzen: "Inmitten dieser optischen Verzauberung steht sie, die einzelne, wie verloren in der Masse, zu der sie keine andere Beziehung hat, als am Bartisch von den Genüssen auszuschenken, deren jene Welt bedarf. Ihre Figur wird zum Ganzen des im Bilde wahrnehmbaren Lebensausschnitts zugleich in Verbindung und in Gegensatz gestellt. Wenn diese Spiegelwelt der Bardame hintergründig zugeordnet erscheint, so doch in dem Sinne, daß sie zugleich aus ihr herausgehoben wird. Sie selbst sieht diese Welt wie durch einen Schleier. Um sie herum ist Leere, in der sie sich behauptet. Von hier aus wird das Bild von einer dichten Spannung erfüllt. Die Fragwürdigkeit eines beziehungslosen Daseins des anonymen Großstadtmenschen inmitten einer erregten und künstlichen Atmosphäre ist in diesem Bilde angerührt. Das heißt, hier zum ersten Male in der Malerei des neunzehnten Jahrhunderts hat die Einsamkeit des modernen Großstadtmenschen Gestalt gewonnen."

Das Barmädchen wird in dieser Interpretation Hans Jantzens also zum "Paradigma eines modernen Großstadtmenschen in dessen Einsamkeit." (522)

 

Beide Interpretationen zielen darauf ab, die Begegnung zwischen Barmädchen und Zylindermann nicht als real, sondern als eine Erinnerung aufzufassen, eine "Erinnerung in der Gegenwart des einsam vor dem Spiegel dastehenden Mädchens" [...] Vielleicht soll sogar das Spiegelbild eine Sehnsucht des Mädchens nach einem Vergangenen ausdrücken." (523)

 

 

Imdahl betont immer wieder, dass diese Interpretationen nicht die einzig möglichen sind. Und tatsächlich ist die Forschungsgeschichte voll von weiteren Deutungen, auch von ganz unterschiedlichen Beobachtungen. So sieht beispielsweise ein Ausstellungskatalog aus dem Jahr 1983 in dem Gesicht des Barmädchens das "Gesicht eines Landmädchens, das frisch in Paris eingetroffen ist" und das "eher träge als festentschlossen und eher versonnen als verführerisch" wirkt. (524f) Dagegen schrieb Ernest Chesneau 1882, dass es "unmöglich" sei, "kokottenhafter zu wirken als das Geschöpf, das der Künstler hinter den Marmor des ... Bartisches gestellt hat". T. J. Clark dagegen äußerte 1977, "Manets Gemälde" sei "ein Bild bedrückender Prostitution und die Melancholie der Serviererin" ein "Ausdruck der Entfremdung". Diese Aussage wird wiederum vom Katalog von 1983 abgelehnt als "ideologisches Trugbild [...] gegen allen Augenschein." Imdahl dagegen: "Diese Aussage kann nicht überzeugen, nicht nur nicht, weil sie nicht begründet ist. Sie selbst ist in allem Augenschein entgegen [sic]." (525)

 

Werner Hofmann bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Das Mädchen sei in ihren zwei Ansichten gewissermaßen in zwei 'Zuständen' zu sehen: die Rückenansicht zeige sie in ihrer aktiven Rolle als Barmädchen, die Frontalansicht zeige sie dagegen reflektierend über sich selbst. Manet stelle in ihr "das Nachdenken über diese Rolle, den Rückzug in die Selbstbefragung dar". (525) Damit sei das Mädchen sowohl als Objekt wie als Subjekt sichtbar, ersteres zeige sie als Ware, als Objekt auch für den Maler, "indem es diesem, wie man weiß, für das Barbild Modell getanden habe." (527)

 

Hofmann erwähnt noch eine interessante, grundsätzliche Rollenverwandtschaft zwischen dem Mädchen und dem Maler. Denn wie dieser Bilder verkaufen müsse, so müsse das Mädchen Waren verkaufen oder auch sich selbst." (527)

 

Eine Vielzahl möglicher Interpretationen also, deren jeweilige Berechtigung einzig in ihrer Nachvollziehbarkeit angesichts des Bilds selbst zu suchen ist. "Eine einzige und eindeutige Verständnisebene wird sich nicht angeben lassen - übrigens sehr im Unterschied zur Skizze des Gemäldes, in welcher die Optik der Spiegelung vergleichsweise fehlerfrei ist und zudem das Mädchen selbst in Gebärde und Physiognomie ganz anders sich verhält." (527)

 

Nur eines ist angesichts des Gemäldes eindeutig zu sagen: Es ist unmöglich, dass der Betrachter und der Mann mit Zylinder, den wir im Spiegel sehen können, identisch sind. Dies ist "spiegelungslogisch unmöglich und mithin in höherem Maße eine Leistung poetischer Fiktion." (527) Aber eben aus diesem Grund fragt sich Imdahl, ob eine empirische Unmöglichkeit auch in einem Gemälde Geltung hat oder ob "Inhalte der Vorstellung und auch solche der poetischen Fiktion" in einem Kunstwerk nicht eine Realität einfordern dürfen, die sie in der empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeit niemals beanspruchen dürften. Ein Gegenargument gegen eine Deutung dürfte in diesem Fall nicht in einer logischen Unmöglichkeit bestehen, sondern könnte einzig dadurch Beweiskraft erlangen, dass es die vermeintlichen 'Fehler' durch einen anderen Bildsinn zum Teil einer stringenten Deutung werden ließe, in diesem Fall nur "ein solcher Sinn, der ohne die falsche Spiegelung gar nicht formulierbar wäre und angesichts dessen das Falsche das Richtige ist." (528)

 

"Zu erwägen bleibt [...] die Möglichkeit eines anderen Bildsinns, zu dessen Gunsten die Spiegelung falsch ist, weil sie nur falsch richtig sein kann und nur so jedem Bildsinn zu entsprechen vermag." (528)

 

Im Folgenden schlägt Imdahl eine solche Deutung vor, die einerseits auf dem 'Falschen' fußt und dieses auf diesem Weg als 'richtig' erweist und die andererseits ihrerseits nicht beansprucht, die einzig mögliche Deutung zu sein, die alle anderen Deutungen als unzutreffend disqualifizierte.

 

Auch diese Deutung reflektiert auf das Spannungsverhältnis des Barmädchens mit ihrem Spiegelbild und auf Hofmanns "Selbstbefragung über seine Rolle im Spiegel": "indessen soll es nunmehr darum gehen, die Positionen oder, anders gesagt, die Seinsweisen des Mädchens vor dem Spiegel und im Spiegel als prinzipiell unversöhnlich aufeinander zu beziehen, sogar als existentiellen Konflikt." (528)

 

Allerdings wird die Deutung Imdahls die meisten der bisher geäußerten Aspekte von Deutungen außer Acht lassen. Imdahl kündigt an, dass er ohne sie auskommt, zumal sie im Bild nur schwer zu sehen oder nachzuvollziehen seien ("Ist alles das wirklich zu sehen?"; 529). Stattdessen sei die folgende Interpretation nichts weiter als eine intensive Beschreibung des Bilds selbst.

 

"Was ergibt überhaupt eine Beschreibung, wiederholt sie nur die ohnehin selbstverständlichen Sichtbarkeitsgegebenheiten eines Bildes oder macht sie erst eigentlich bewußt, was zu sehen ist? Man kann - grundsätzlich - verschiedene Möglichkeiten einer Bildinterpretation voneinander unterscheiden, nämlich zum einen solche, die das, was zu sehen ist, von vornherein und gelegentlich auch vorschnell in einen schon vorausgesetzten historischen Zusammenhang stellen und somit das Bedenkenswerte nicht eigentlich im Bilde selbst aufsuchen, und zum anderen solche Interpretationen, die sich zuallererst auf das sichtbar Gegebene konzentrieren, dieses selbst zum Gegenstand der Reflexion machen und erst alsdann das zu Sehende deuten als eine visuelle Information über historische Umstände, die sich auf andere Weise so nicht gewinnen läßt." (529)

 

"Folgendes also läßt sich - vielleicht - zum Barbilde Manets noch sagen:

Vor dem Spiegel steht das Barmädchen aufrecht, allein, einsam, im Spiegel ist es dagegen dem Zylindermann zu Diensten. Vor dem Spiegel ist die Physiognomie des Mädchens ernst, melancholisch, tieftraurig. Das kann man im Spiegel nicht sehen. Wie aber sollte das Barmädchen den Zylindermann so melancholisch anschauen?" (530)

 

Imdahl betont, dass das Barmädchen und sein Spiegelbild zugleich zusammengehören - das Mädchen wird im Spiegel wiedergegeben - und sich voneinander unterscheiden, denn ganz offensichtlich zeigt das Spiegelbild etwas anderes, als wir es vor dem Spiegel sehen. Das wird nicht zuletzt durch die 'Fehler' kenntlich gemacht, beispielsweise durch die offensichtliche Verschiebung des Spiegelbilds. Dieser 'Fehler', der Bild (das Mädchen) und Abbild (das Spiegelbild) voneinander trennt, weist auf eine innere Wahrheit, die ganz offensichtlich mit "Identität und Disidentität", mit Gleichheit und Ungleichheit/Unterschied zu tun hat. Wenn wir in der 'falschen Spiegelung' einen 'richtigen' Ausdruck sehen wollen, kann er nur mit diesem Wechselverhältnis zu tun haben.

In der Skizze war noch keine Rede von "Disidentität", vom Auseinanderfallen der Identität des Barmädchens gewesen. Dort hatte die Frau gewissermaßen noch mit sich selbst übereingestimmt. Im Gemälde dagegen zerfällt diese Identität, Imdahl spricht von der "in sich selbst entzweite[n] Existenz des Mädchens in Hinsicht auf Person und Rolle." (530f)

 

"Unbestreitbar bedingt die Entzweiung von Person und Rolle das Bewußtsein einer Selbstentfremdung des Menschen in den Zwängen einer modernen Gesellschaft, die sich in den damals aufkommenden Lebenformen der Großstadt gebildet hat. Vielleicht ist gerade dies die Botschaft des Bildes, daß nämlich in der modernen Gesellschaft das Recht auf Identität der Person und die Forderungen an die Rolle unversöhnlich sind und diese Unversöhnlichkeit - gerade sie - ein Anlaß ist zu Vereinsamung, Melancholie und Trauer." (531)

 

Dann wäre der erwähnte, in Degas' und Manets Bildern häufig anzutreffende "äußere Widerspruch von Beieinander und Auseinander" in dem Barbild gewissermaßen auf eine höhere Ebene gehoben, die nicht nur die Vereinsamung des Menschen inmitten der Gesellschaft, sondern auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst thematisierte. Im Bild wäre damit "das Schicksal einer inneren, dem Individuum selbst zugemuteten und allein in diesem selbst auszuhaltenden Widersprüchlichkeit" dargestellt. (531)

 

Und wenn dem so ist, kann man darüber nachdenken, wer von beiden - Person oder Rolle - eigentlich mit dem Zylindermann kommuniziert und ob diese Kommunikation gelingen kann oder ob sie sich auf den Austausch von mehr oder weniger leeren Rollenerwartungen beschränken wird. Imdahl jedenfalls sieht in der im Spiegel dargestellten Kommunikation eine "illusionäre, trügerische Kommunikation, welche die Person des Mädchens in seiner Wirklichkeit nicht wirklich erreicht." (531)

Kommentar schreiben

Kommentare: 0