Max Imdahl, Edouard Manets "Un Bar aux Folies-Bergère" - Das Falsche als das Richtige, in: Ders., Zur Kunst der Moderne. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Hg. v. Angeli Janhsen-Vukicevic, Frankfurt am Main 1996, S. 497-533 (Erstdruck 1986).
Teil 2 (S. 500-515)
Imdahl hat diesen Text 1986 geschrieben, damit zählt er zu seinen späteren Aufsätzen. Er erschien in dem von Imdahl selbst herausgegebenen Band mit dem gleich mitten in die Disskussion führenden Titel "Wie eindeutig ist ein Kunstwerk?", der Texte von Werner Busch, Richard Hoppe-Sailer, Michael Hesse und Rolf Wedewer enthält über Künstler von Hans Holbein d.J. bis Cy Twombly. Von Imdahl selbst stammt neben dem Aufsatz über Manet ein zweiter über Holbeins "Darmstädter Madonna" (1526/28) als Andachts- und Ereignisbild.
Edouard Manet, Un Bar aux Folies-Bergère, 1881/82; London, Courtauld Institute Gallery
Schon der erste Blick auf Manets Bild "Un bar aux Folies-Bergère", den Imdahl beschreibt, wird durch das illusionistische Spiel der Spiegelbilder irritiert und auf diese Weise zum genauen Hinsehen animiert. Der spontane Effekt ist der, dass der Bildraum über die Grenzen des Bilds hinaus vergrößert wird und dies in einer Weise, dass er für den Betrachter ungreifbar wird, er sich diesem Raum aber auf diffuse Weise zugehörig fühlt: er ist selbst ein Teil von ihm. Verschiedene Hinweise betonen die Ausschnitthaftigkeit des Bilds, beispielsweise die angeschnittene Figur eines Trapezkünstlers am Bildrand oben links, und eben diese Ausschnitthaftigkeit ist es, die die Fantasie des Betrachters dazu anregt, imaginativ bzw. in seinem Erleben den Bildraum in den Realraum hinein fortzusetzen.
Interessanterweise wendet sich Imdahl nach dieser ersten, verhältnismäßig oberflächlichen Beschreibung dem historischen Lokal des Folies-Bergère zu, referiert geschichtliche Fakten, erwähnt, dass das Lokal gerade in der Entstehungszeit des Bilds "berüchtigt" gewesen sei; von Zeitgenossen sei es beschrieben worden "als der einzige Ort in Paris, der 'ebenso süßlich nach Schminke käuflicher Zärtlichkeiten wie nach dem äußersten an hemmungsloser Verkommenheit stinkt.'" (S. 498) Imdahl entledigt sich damit gewissermaßen der notwendigen Erwähnung der historischen Zusammenhänge, bevor er sich Wichtigerem zuwendet - und tatsächlich wäre es schade, wenn das Folgende durch solche Hinweise unterbrochen würde.
Etwas distanziert referiert Imdahl schließlich die gängige, kunsthistorische Zuordnung des Bilds zum Impressionismus - offenbar vor allem wegen des Ensembles aus Früchten, Blumen und Flaschen auf der Marmorplatte der Bartheke. Immerhin könne man hier "die besondere Qualität der Malerei Manets" erkennen, die sich an seinem "gleichermaßen spontan und sicher verfahrenden Malstil" zeige: "Wenige Pinselstriche oder auch Pinselhiebe genügen, um zum Beispiel ein Glas mit Rosen darin zu verdeutlichen - das Glas in seiner spezifischen materialen Beschaffenheit wie ebenso die ganz andere Stofflichkeit der Blumen." (498) Imdahl rühmt damit gerade das, was in der zeigenössischen Kritik als bloße Schmiererei abgelehnt wurde. Noch Julius Meier-Graefe hatte das Bild 1912 als "ein künstlicher, komplizierter Versuch, Leben zu erwecken" bezeichnet. Das "Glas mit den beiden Rosen ist das einzig echte daran." (500) Erst später - beispielsweise im Urteil Hans Jantzens (1951) - ändert sich diese Einschätzung und das Werk wird nun eingereiht unter die großen Meisterwerke europäischer Malerei seit der Renaissance.
Unter impressionistischer Malerei wird gewöhnlich Landschaftsmalerei verstanden. Ihr Kennzeichen ist die Emanzipation der Farbe, die sich vom Gegenstand und damit von einer bestimmten Bedeutung ablöst. Der Impressionismus kennt keine Lokalfarbe mehr. Wassily Kandinsky schrieb 1895 über dieses Phänomen, dass nun erst aus einer Abbildung ein Bild entstehe. Und erst auf diesem Weg entdeckt er "die verborgene Kraft der Palette, die über alle meine Träume hinausging." (500)
"Nach dem Urteil Kandinskys läßt die koloristische Offenbarung alles Gegenständliche hinter sich." (501)
Claude Monet, Heuhaufen im Schnee, 1891
Schon vorher war erkannt worden, dass auf diese Weise die Natur in den impressionistischen Bildern eine ganz besondere Präsenz bekam, dass sie ungewöhnlich lebendig wird in diesen Bildern und sie das Lebensgefühl des Menschen wecken und steigern. Der Betrachter kann in diese Bilder eintauchen und sich zugleich in sich selbst versenken.
"Ganz andere Inhalte können dagegen die Figurenbilder der impressionistischen Epoche in Frankreich bestimmen, wiewohl auch diese - so Manets Barbild - in ihrer Malweise dem Konzept impressionistisch-flüchtiger Malweise und koloristischer Pracht mehr oder weniger folgen." (501)
"Nicht selten und wohl auch nicht unbegründet verhalten sich die Landschaftsmalerei und die Figurenmalerei der Epoche geradezu gegensätzich zueinander - gegensätzlich im tieferen Sinn einer geschichtlich bedingten sozialen Situation im Zeitalter der Industrialisierung. Dem ersehnten, vitalen und in unwiederbringlich glückhaftem Augenblick möglichen Einssein des Menschen mit dem Leben der landschaftlichen Natur korresponidert ein Defizit an zwischenmenschlicher Kommunikation. Der Wunsch nach Lebensgefühl im Einklang mit dem Leben der Natur geht einher mit einer Vereinsamung der Menschen in ihrem Verhältnis zueinander. [...] Durch alle malerische Bravour und durch allen koloristischen Reichtum hindurch zeigen zahlreiche Figurenbilder der impressionistischen Epoche in Frankreich - besonders solche von Manet und Degas - die Einsamkeit des Menschen in seiner Beziehungslosigkeit zu anderen Menschen." (501f)
In der Zeit um 1875 entsteht innerhalb der Fotographie eine neue Gattung: die der großstädtischen Straßenszenen, aufgenommen als Schnappschüsse bzw. Momentaufnahmen. Sie zeichnen sich nicht zuletzt durch technische Unvollkommenheit aus, beispielsweise in Bezug auf den Bildausschnitt, darüber hinaus selbstverständlich in der Komposition und der Bildschärfe der Einzelmotive. Der Zufall hält Einzug in das Medium der Fotographie und mit dieser in die Welt der Bilder.
Denn formal finden sich ähnliche künstlerische Formen auch in Gemälden, beispielsweise von Edgar Degas, auch wenn hier selbstverständlich nicht von "Zufall" zu sprechen ist - in einem Gemälde muss ein Zufall komponiert, muss formale Willkür bewusst inszeniert werden. Hier geschieht nichts von selbst.
Edgar Degas, Le Comte Lepic. Place de la Concorde, 1876; vermutlich im Zweiten Weltkrieg zerstört
Ein Beispiel für diesen Vorgang in der Malerei ist Degas 1876 entstandenes Gemälde "Le Comte Lepic. Place de la Concorde": Jede Person verhält sich darauf "absolut unbekümmert um ihre jeweils nächstbenachbarte Person. [...] Der Ausdruck der Vereinzelung wird intensiviert, indem Vereinzelung gerade dort auftritt, wo sie gerade nicht vermutbar ist, nämlich im nahen Beieinander von Personen." (504)
"Was Degas malt, ist nicht nur mehr zufällig, sondern manipuliert - sogar in hohem Maße manipuliert." Das Bild kann damit als ein Musterbeispiel für die malerische Inszenierung des Zufälligen gelten. "Die Intelligenz der Komposition widerspricht dem Zufall, und nimmt man dieses Bild von Degas wirklich ernst, so ist es ein im Grunde schreckliches Bild. Der eigentliche Bildsinn offenbart sich in einem jede nur vorstellbare Zufälligkeit einer Straßenszene prinzipiell überbietenden Ausdruck der Entfremdung. Die eigentliche Botschaft des Bildes von Degas ist also Entfremdung, Darstellung von Unzusammenhang. Man kann es auch so formulieren, daß der Modus des Beieinander der einzelnen Personen hier das Auseinander ist. Gerade in der Gruppierung der Personen wird deren Isolation, deren prinzipielle Unverbundenheit mit anderen Personen, als solche thematisch und deutlich." (504/506)
Das gleiche Motiv begegnet auch bei Manet immer wieder.
Edouard Manet, Im Concert-Café, 1878; Baltimore, Walter Art Gallery
Beispielsweise scheint alles an dem Bild "Im Concert-Café" zufällig, gleich einem photografischen Schnappschuss. Zudem ist jede der dargestellten Figuren offensichtlich ganz mit sich selbst beschäftigt, selbst wenn sie räumlich einander sehr nahe sind. "Keine Phantasie des Bildbeschauers könnte der verbildlichten Szene eine soziale Gemeinschaft hinzuerfinden, die den einzelnen birgt und an der der einzelne teilhat." (508)
Dieser Zug wird zu einem Kontinuum in Manets Bildern.
Edouard Manet, Der Balkon, 1868; Paris, Louvre
"Vereinzelung herrscht, nicht Zusammenhang." (508)
Das gilt in ganz besonderer Weise auch für das Barmädchen in "Un bar aux Folies-Bergère".
Mitten in dem geradezu hörbaren Trubel des Lokals steht das Barmädchen in vollkommener Einsamkeit.
Zu dem Bild hat sich eine Skizze erhalten, die sowohl Gemeinsamkeiten wie entscheidende Unterschiede zum Bild im Louvre aufweist und deren Verhältnis zum Bild nicht abschließend geklärt ist.
Edouard Manet, Skizze zu "Un bar aux Folies-Bergère", 1881; Amsterdam, Stedelijk Museum
Imdahl zählt die wichtigen Unterschiede auf:
- Das Mädchen ist nicht in der Bildmitte angeordnet.
- Es blickt nicht frontal aus dem Bild heraus, nimmt keinen Blickkontakt mit dem Betrachter auf.
- Der Kunde, der ebenfalls im Spiegel zu sehen ist, ist niedriger angeordnet als das Mädchen, zugleich steht er dem Mädchen näher.
- Die Bartheke bildet eine deutlichere Barriere, die auf der rechten Seite durch eine Ecke durchlässig wird. Durch die perspektivische Verkürzung wird der Standort des Betrachters vor dem Bild fixiert. "Für das Verständnis der Gesamtszene ist dies entscheidend wichtig: Der Bildbeschauer kann und soll nämlich glauben, vor dem Spiegel dort zu stehen, wo der gespiegelte Mann dem gespiegelten Mädchen gegenübersteht. Die Skizze bezieht also den Bildbeschauer in die verbildlichte Szene ein, sie legt dem Beschauer die Fiktion nahe, er selbst sei der gespiegelte Mann und er selbst stehe in einer Verhandlung - oder was es auch sei - dem Mädchen vor dem Spiegel gegenüber." (513)
Tatsächlich stimmt in der Skizze die Spiegelung, wenn der Betrachter tut, was die Perspektive ihm vorgibt: sich leicht rechts der Bildmitte, in der Verlängerung der rechten Kante der Theke zu positionieren.
Ganz anders aber im ausgeführten Gemälde. Hier steht das Mädchen genau auf der Mittelachse und sieht den Betrachter direkt an. Die Spiegelung dagegen scheint fehlerhaft zu sein, kann so nicht funktionieren.
Das Spiegelbild im Hintergrund ist nach rechts 'verrutscht', was eine Schrägstellung des Spiegels voraussetzen würde, die aber, wie die Unterkante des Spiegels deutlich macht, nicht gegeben ist.
Wie 'fehlerhaft' das Ganze tatsächlich ist, wird vollends an der Positionierung der Flaschen am linken Bildrand deutlich: sowohl vor als auch im Spiegel stehen sie an der
hinteren Kante des Tischs. "Das ist spiegelungslogisch zweifellos falsch.
Es ist aber bildästhetisch begründbar, denn aus der falschen Postierung der gespiegelten Flaschen ergibt sich eine schräge ideale Linie, die mehr oder weniger genau von der unteren Bildecke links
über jene falsch gespiegelten Flaschen zum Kopf des Mädchens hinaufführt. Es ergibt sich die Seite eines potentiellen Dreiecks, das die Position des Barmädchens formal festigt in Anspielung auf
eine pyramidale Struktur." (513f) Auf diese Weise ergibt sich die Wirkung von Monumentalität und feierlichem Ernst, wie sie in keinem anderen Bild Manets in dieser Weise zu beobachten ist.
Verschiedene Interpretatoren stellen Beziehungen vom Bild zu antiken Kunstwerken, kultischen Handlungen und zu Darstellungen von Göttinnen her. Das ist umso auffälliger, als die offenbar
vorbereitende Skizze alle diese Elemente vermissen lässt. Manet muss sie also ganz bewusst in den schon vorhandenen Entwurf integriert haben. Damit werden die feststellbaren 'Fehler' - auf die
hinzuweisen keine kunsthistorische Analyse auslässt - wie so häufig zu einem Fingerzeig, den der Künstler ganz bewusst zur Blicklenkung und Aufmerksamkeitssteuerung einsetzt.
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