Max Imdahl, Über einige narrative Strukturen in den Arenafresken Giottos, in: Max Imdahl, Zur Kunst der Tradition. Gesammelte Schriften 2, hg. v. Gundolf Winter, Frankfurt am Main 1996, S. 180-209.
Nach Imdahls einleitenden Worten, u.a. zu seiner Vorgehensweise, nun zu den von ihm ausgewählten Bildbeispielen aus der Arenakapelle in Padua.
Bildbeispiel 1: Fußwaschung Christi (Johannes-Evangelium, Kap. 3, V. 4-10)
Giotto di Bondone, Fußwaschung Christi, 1304-1306; Padua, Scrovegni- bzw. Arenakapelle
Imdahl zitiert zunächst den gesamten Passus aus dem Evangelium nach Johannes, der die Fußwaschung Christi beschreibt. Dies unterscheidet sich einerseits von der ikonographisch-ikonologischen Methode - die auf ihrer ersten Stufe die 'Phänomenologie' thematisiert und dabei den Anspruch erhebt, möglichst unvoreingenommen zu beschreiben, also auch ohne Zuhilfenahme der entsprechenden Bibeltexte -, andererseits ist es konsequent, da Imdahl, wie er im vorhergehenden Textabschnitt dargelegt hatte, davon ausgeht, dass der Betrachter des Werks im 14. Jahrhundert den Evangelientext bereits sehr gut kannte. Den von Panofsky postulierten 'unvereingenommenen Blick' hat es Imdahl zufolge nie gegeben, weder beim zeitgenössischen Betrachter, noch beim analysierenden Wissenschaftler. Das Zitieren des Evangelientexts ganz am Beginn der Analyse stellt dieses a-historische Postulat also richtig.
Auch Imdahls zweiter Schritt überrascht den an der Ikonologie geschulten Betrachter: Imdahl zieht noch vor der Einzelbeschreibung des Bilds den Vergleich hinzu, um auf diese Weise den Blick für die Eigenarten des zu analysierenden Bilds zu schärfen. Eigentlich ist der Vergleich ein geläufiges, kunstwissenschaftliches Instrumentarium, doch Panofsky zufolge geschieht der ikonographische Vergleich erst nach der eingehenden Beschreibung, auf Stufe 2 der ikonographisch-ikonologischen Methode. Imdahl indessen kürzt den Weg gewissermaßen ab.
Zum Vergleich wählt er in diesem Fall Duccios nahezu zeitgleich mit der Arenakapelle enstandene Maestà in Siena, auf der ebenfalls eine Fußwaschung dargestellt ist, und interessanterweise beschreibt er erst diese Bildlösung, bevor er zu der Giottos übergeht.
Duccio di Buoninsegna, Fußwaschung Christi, 1308-1311; Maestà, Siena
Imdahl arbeitet in der Beschreibung des Duccio-Bilds Möglichkeiten der Erzählung durch dargestellte Handlungen - wie das Schuh-An- bzw. -Ausziehen - heraus, deren transitorischer Charakter (also deren impliziten Hinweis auf zeitlichen Verlauf, auf einen Ablauf bzw. Fortschritt) nicht zuletzt durch die Unterbrechung der Handlung betont wird (der Apostel, der Rücken an Rücken zu Petrus sitzt, hält mit halbgeöffnetem Schuh inne, um den Dialog zwischen Petrus und Christus zu verfolgen).
Prägend für Duccios Bildlösung erscheint Imdahl indessen die kompositorische Trennung in zwei Gruppen: Christus-Petrus in der linken, alle übrigen Apostel in der rechten Bildhälfte. Schon mit Blick auf Giottos Komposition spricht er indessen von einem "formale[n] Notbehelf", der nur im ersten Augenblick fasziniere, auf Dauer aber nicht wirklich überzeuge und zudem keine Entsprechung in der Deutung des Bilds habe (S. 183). Stattdessen handle es sich um eine rein formale, inhaltlich leere Formel, die aus der italo-byzantinsichen Bildtradition übernommen sei, statt zum "Ausdruck eines 'lebendigen', dem subjektiven Nacherleben geöffneten Vorgangs zu werden." (S. 184)
Giottos Bildlösung dagegen "erzielt bei differenzierterer Erzählweise eine vermehrte szenische Evidenz des verbildlichten Ereignisses" (S. 184), wird also schlichtweg abwechslungsreicher und dadurch interessanter.
Auffällig sei, dass die Komposition nun - bei Giotto - vereinheitlicht sei, was auch der Deutung zugute komme.
Zugleich tritt mit den beiden stehenden, wassertragenden Aposteln eine 'Nebenszene' in den Focus der Aufmerksamkeit, deren Bedeutung durch die Komposition betont wird. Indem sie in ihrer Handlung geradezu ostentativ innehalten, mit ihrer Haltung die laufende Sukzession geradezu aufhalten, lenken sie - Imdahl zufolge - die Aufmerksamkeit wesentlich wirksamer auf die zentrale Szene, als dies bei Duccio der Fall gewesen war. "Indem die exponierten Wasserträger auf den Christus-Petrus-Dialog Bezug nehmen, ist auch dieser selbst exponiert." (S. 185)
Abschließend rekonstruiert Imdahl die "Erzählstruktur des Bildes" - nicht zuletzt mit Hilfe des Vergleichs mit der vollkommen anderen Bildlösung Duccios:
Der Betrachter wird durch die mit dem Zubinden der Sandalen beschäftigten, den Dialog zwischen Christus und Petrus unbeachtet lassende Gestalt am linken Bildrand (der Apostel Andreas) in das Bild eingeführt. Die beiden Wasserträger leiten dann optisch zum zentralen Ereignis der Selbsterniedrigung Christi über und dienen dem Betrachter gewissermaßen als Identifikationsfiguren. Das Verharren der Figuren akzentuiert zugleich die Bedeutung des Ereignisses, dessen Zeugen sie werden.
Imdahl hatte auf die Unvollständigkeit seiner Beschreibungen hingewiesen, die er bewusst in Kauf genommen hatte, und tatsächlich wird schon an diesem ersten Beispiel deutlich, wie sehr er sich - sicherlich im Sinne der besseren Lesbarkeit seines Texts - auf vereinzelte Phänomene konzentriert. So lässt er bei Giotto neben vielem anderen beispielsweise vollkommen außer Acht, was für dessen Erzählstrategie jedoch keineswegs ohne Belang ist: dass Giotto jeder einzelnen der von ihm dargestellten Figuren mittels Haar- und Barttracht sowie Kleidung eine ganz eigene Persönlichkeit gibt. Auch hier weicht Giotto von der zu seiner Zeit üblichen, italo-byzantinischen Typisierung in auffälliger und die Erzählung wesentlich aufwertender Weise ab.
Bildbeispiel 2: Hochzeit zu Kana
Die Analyse des zweiten Bilds beginnt, anders als die des ersten, unmittelbar mit seiner Beschreibung, allerdings - wiederum abweichend von Panofskys Vorgehen - mit sofortigen Zuordnungen, also ohne die umständliche Scheidung von Phänomenologie und Ikonographie. Imdahls Hauptaugenmerk gilt zunächst der Komposition und der Perspektive.
Giotto di Bondone, Hochzeit zu Kana, 1304-1306; Padua, Scrovegni- bzw. Arenakapelle
Als zweiten Schritt nimmt er den Evangelientext (Johannes 2,1-11) hinzu, mit deren Hilfe er einige Details, u.a. Gebärden, erklärt, Dann erst geht er zu einer "genauere[n] Interpretation" über und greift sich dazu zwei Figuren aus der Komposition heraus, die im Bibeltext (so) nicht begegnen. Imdahl erkennt in ihnen zwar nicht, wie es in der mittelalterlichen Bildtradition durchaus üblich war, zweimal dieselbe Figur, aber dennoch versteht er sie als Darstellung des Fortschreitens der Handlung, einer Sukzession also - eine der grundlegenden Strategien für eine 'Erzählung' im Bild. Diese Figuren verkörpern gewissermaßen ein "zuerst" und ein "dann" oder 'danach'. (S. 188)
Zugleich analysiert Imdahl sehr sensibel ein räumliches Hintereinander, das sich erst bei sehr genauem Hinsehen offenbart und das von ihm ebenfalls als "Ausdruck eines zeitlichen Nacheinanders" gelesen wird. (S. 189)
Schließlich wird dieser Ablauf einer Handlung auch durch die Komposition unterstützt, wenn Imdahl sie folgendermaßen an dem Wandbehang hinter den sitzenden Personen festmacht:
"Durch ihre indirekte Orientierung auf die Dienstpersonen und den Speisenmeister [die korpulente Gestalt rechts hinter den Krügen] gewinnt die Christusgebärde die Geltung einer Ungleichzeitiges übergreifenden Präsenz, insofern die gezeigten verschiedenen und zu verschiedenen Zeiten motivierten szenischen Situationen von der Entgegennahme des Auftrags 'Füllet die Krüge mit Wasser' bis zur Probe durch den Speisenmeister sämtlich dem Gebote dieser selben Gebärde unterworfen scheinen." (S. 189) Imdahl versteht diese Art der Darstellung als intelligenten Umgang Giottos mit dem Umstand, dass der Bibeltext das Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein selbst nicht beschreibt. Irgendwann zwischen Christi Weisung und dem Kosten des Speisenmeisters ist es geschehen.
Ein interessantes Detail der Beobachtungen und Beschreibung Imdahls ist seine Interpretation der oberen Abschlusslinie des Behangs, der sich an allen drei sichtbaren Wänden des Raums entlangzieht.
Diese Linie befindet sich genau in der Augenhöhe des Betrachters und ist daher genau waagerecht und gerade wie der Horizont (de facto ist sie der Horizont), ohne einen durch perspektivische Verkürzung motivierten Knick (was tatsächlich mithilfe eines Lineals überprüfbar ist, auch wenn unser Auge sich aufgrund verschiedener perspektivischer Hinweise Giottos bemüht, Knicke in die Linie hinein zu sehen).
In Imdahls Verständnis steht diese Linie ebenfalls für die Sukzession, den Fortlauf der Handlung von links (Gebärde Jesu) nach rechts (der kostende Speisenmeister): "In der waagerechten Abschlußlinie des Wandbehangs sind [...] Funktionen einer das zeitlich Verschiedene zu szenischer Einheit zusammenfassenden optischen Form und Funktionen einer empirischen Raumdarstellung in eines gesetzt." (S. 190) Tatsächlich experimentiert Imdahl mit Hilfe einer Retuschierung mit dem Abknicken dieser Linie und beobachtet, dass in diesem Fall die Handlung auf dem Bild in Einzelteile zerfällt, statt Teile einer übergreifenden Abfolge zu sein. (Allerdings ist dieses Beobachtung anhand des gezeigten Bildmaterials praktisch nicht nachvollziehbar.)
Neben dem Anspruch der Daarstellung einer sich in zeitlicher Sukzession entwickelnden Geschichte stand Giotto außerdem vor dem Problem, dass das eigentliche Wunder zugleich in die Geschichte der Hochzeit eingebettet war. Daraus erklärt sich Imdahl zufolge die eigenartig beherrschende Gestalt der Braut genau auf der Mittelachse des Bilds.
Sie bezieht sich kompositorisch offenkundig nicht auf das Wunder. In ihr sei, so Imdahl, "Zeit als Dauer repräsentiert". (S. 191) In der Interpretationsgeschichte des Bilds ist diese Figur u.a. als Symbol für die Ecclesia, die Kirche, verstanden worden - "solche Interpretationen" aber seien letztlich "doch nur möglich, weil an der Braufgifur ein dem Zeitmaß der Wunderszene noch übergeordnetes Zeitkontinuum" - die Ewigkeit - "zur Geltung kommt." (S. 192) Tatsächlich hebt die Art der Darstellung diese Figur ja aus der fortschreitenden (um nicht zu sagen quirligen) Handlung wirksam heraus.
Wiederum zeigt abschließend der Vergleich mit der entsprechenden Szene in Duccios Maestà in Siene, in welchem Maße es Giotto versteht, eine Spannung in die Szene hineinzuholen, zu der jedes einzelne Detail beiträgt.
Duccio di Buoninsegna, Hochzeit zu Kana, 1308-11; Maestà, Siena
Wo bei Duccio Detailverliebtheit und offenkundige Freude am Erzählen (um des Erzählens willen) sichtbar wird, folgt bei Giotto jedes Detail einem übergeordneten Plan - selbst der Wandbehang hinter den sitzenden Figuren und noch die Braut, die neben der Gottesmutter sitzt und nicht das Wunder der auf die Eucharistie verweisenden Wandlung des Wassers in Wein beachtet.
Bildbeispiel 3 im nächsten Blog-Text.
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