Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ Darmstadt 2010 (3. Auflage)
S. 253-257: Darstellung, oder: das Lebendige (Fortsetzung)
Nach der wichtigen Unterscheidung von schwachem und starkem Bild (siehe Blogeintrag "Diedrichs liest Boehm", Teil 11) denken Boehm und #Gadamer über den Begriff der 'Darstellung' nach. Das ist nicht zuletzt deswegen höchst interessant, weil auf diese Weise der scheinbar so vertraute Begriff eine zusätzliche Bedeutung, eine neue Dimension gewinnt.
Aus dem kaufmännischen und rechtlichen Bereich leiten Boehm/Gadamer die Einsicht ab, dass 'Darstellung' immer eine wechselseitige Beziehung besschreibt. 'Etwas ist darstellbar', bedeutet in der Sprache des Kaufmanns, dass es einen Gegenwert gibt, beispielsweise in Form von Geld oder Immobilien, der in einem angemessenen Verhältnis zum 'Dargestellten' steht.
Angewendet auf die Welt der Bilder, lässt sich diese Beziehung durchaus wiederfinden, ganz besonders - aber nicht ausschließlich - im Bereich religiöser und politischer Bilder. Vor allem erstere stellen häufig etwas dar, das per definitionem 'unsichtbar' ist, auf dem Weg der 'Darstellung' im Bild jedoch sichtbar gemacht wird. (Daher stammt die häufige Warnung der mittelalterlichen Bilderlehre, nicht das zu verehren, was man sieht, sondern das, was dahinter steht.)
Der heute übliche Fachbegriff für diese Darstellbarkeit ist "Repräsentation", dessen eigentliche Tiefe durch den Hinweis auf den kaufmännischen Gebrauch des Begriffs 'Darstellung' zusätzliche Deutlichkeit gewinnt. Zugleich ist diese Form der "Repräsentation" nicht allein in der Kunst, sondern in vielen Bereichen unserer Kulturgeschichte, auch unseres Alltagslebens, wirksam, so beispielsweise im Herrscherbild (noch immer sehr gebräuchlich u.a. in totalitären Staaten mit seinem ausgeprägten Bilderkult): das Bild zeigt nicht nur, wie der Herrscher aussieht, sondern es 'stellt' seine Macht 'dar', es repräsentiert diese selbst und vor allem dort, wo der Herrscher körperlich nicht anwesend ist - wobei der Begriff 'repräsentiert' hier eigentlich sogar noch zu schwach ist; zutreffender sollte es eigentlich zumindest 'präsentieren' heißen, besser noch 'verkörperlichen' oder sogar 'ausüben': das Bild übt die Macht des Herrschers aus (was spätestens dort sichtbar wird, wo vor dem Bild Ehrbezeigungen stattfinden). - Für den Herrscher kann der Bilderkult indessen positive wie negative Auswirkungen haben: was seinem Bild angetan wird, wird ihm selbst angetan.
Zerstörung eines Denkmals #Saddam Husseins, 2003
(aus: Wikipedia, aufgenommen von einem Mitarbeiter der Streitkräfte der Vereinigten Staaten)
'Repräsentation' bedeutet: Das Bild verleiht Präsenz, Gegenwart, Gadamer zufolge "sättigt [es] sich damit". (S. 257)
Gadamers Zusammenfassung des Zusammenhangs von starken und schwachen Bildern: "Das [starke] Bild ist ein Seinsvorgang - in ihm kommt Sein zur sinnvoll-sichtbaren Erscheinung." (S. 257)
S. 258-267: Hermeneutik und moderne Kunst
Es stellt sich nun die Frage, ob diese Form der 'Darstellbarkeit', ob solche starken Bilder also ein Phänomen ausschließlich der Vergangenheit, der Kunst vor dem Beginn der Moderne sind.
Gadamer stellt dazu fest, dass "der Sinn für starke Bilder, ihren Realkonnex, nicht abhanden gekommen" ist, selbst wenn sich der Kunst- und der Bildbegriff im Zuge der Moderne geändert haben.
Im Gegenteil sei sogar festzustellen, dass sich dieser "Sinn für starke Bilder" eher noch verstärkt hat, denn die neuen Bildformen, die im 19. und ganz besonders im 20. Jahrhundert entstanden sind, appellieren in zunehmendem Maß an die Prozesshaftigkeit von Kunst, an ihre eigene Hervorbringung im Vorgang der Rezeption bzw. Teilhabe. Das heißt, die "Stärke" der Bilder im Gadamerschen Sinn ist gerade ein Kennzeichen der Moderne.
Allerdings konzentrierte sich Gadamer nicht so sehr auf das 20. Jahrhundert - möglicherweise mangels zeitlicher Distanz -, sondern beschäftigte sich stattdessen intensiv beispielsweise mit dem neuzeitlichen #Porträt. "Von ihm darf man sagen, dass seine künstlerische Perfektion gerade darin besteht, sich an einem Gegebenen abzuarbeiten. Jede Stilisierung des Dargestellten hat dort ihre Grenze, wo sie der Person ihre Ähnlichkeit mit sich und damit ihre Wiedererkennbarkeit raubt." (S. 259)
Mit der Ähnlichkeit, mehr noch mit der Individualität, der Einzigartigkeit teilt das Bild etwas mit dem Dargestellten, das sie zugleich verbindet. Beide bringen sie einen einzigartigen Eindruck hervor - was einer Stilisierung gerade fehlt -, teilen etwas mit, und diese Hervorbringung nennt Gadamer einen "Seinsvorgang". Dafür ist das Einzigartige, das Zufällige notwendiger als die allgemeinen Kennzeichen eines Typus oder Idealbilds. Zugleich ist dieses Einzigartige nur schwer reproduzierbar oder herstellbar, kaum mit Absicht hervorzubringen. Der Maler kann sich darum gemühen - "scheitert er damit, entgleitet ihm auch deren Individualität." (S. 260)
Dabei ist es ein Trugschluss, dass dieses "Gelegentliche", Individuelle, Eigenartige (im wahren Wortsinn) der Idee ästhetischer Perfektion widerspreche. Das belegt ein Blick in die Geschichte der Porträtmalerei und ihrer Kronzeuten Antonello, Tizian, Rembrandt usw.
Raffael, Porträt des Tommaso Inghirami, 1510-1514; Florenz, Palazzo Pitti
Inghirami hatte Strabismus bzw. Exophorie (Abweichung eines Auges von der Sehrichtung nach außen), dessen Darstellung im Bild hier, anders als in der frühniederländischen Tradition, als Ausdruck seiner Individualität dient.
"Um Realismus im stilistischen Sinn geht es nicht, auch nicht um Abbildung." (S. 260)
Das Gelegentliche - wie beispielsweise der Strabismus/ die Exophorie in Raffaels Porträt des Tommaso Inghirami - wird im Porträt also nicht um der Wirklicheitsnähe willen dargestellt, sondern um der "künstleriche[n] und [...] ikonische[n] Pointe" willen, die auf diese Weise eine Art Mehrwert hervorbringt. Das sichtbare Bild gewinnt etwas hinzu, das es ohne das Gelegentliche nicht hätte. "Das Bildnis realisiert auf seine Weise einen 'Zuwachs an Sein'." (S. 260)
Diesen Vorgang der Begrenzung des Ästhetischen, der 'Verhinderung des Ideals' durch die Aufnahme des Gelegentlichen bzw. Individuellen, das nicht selten eine ästhetische Unvollkommenheit darstellt, stellt Boehm im Folgenden nun auch anhand der Architektur dar. Bauwerke müssen viele ästhetische Kompromisse eingehen, beispielsweise da sie funktionalen und statischen Anforderungen genügen müssen. Doch auch diese stellen keine Einschränkungen dar, sondern "stimulieren die richtige, das heißt produktive künstlerische Antwort: jedenfalls dann, wenn wir von der Kunst des Bauens sprechen." (S. 260)
Damit ist generell eine Art von Kunst angesprochen, die keine l'art pour l'art, also Kunst um ihrer selbst willen ist, sondern die neben ihrem Selbstverständnis als Kunstwerk auch noch einer Funktion gerecht werden muss. Man könnte von 'unreinen' Gattungen von Kunst sprechen oder auch - positiver - davon, dass sie den auf sich selbst beengten Kunstbegriff erweitern.
Im Zuge dieser Erweiterung des Kunstbegriffs entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Begriff des 'Dekorativen'. Boehm stellt dieses dem "selbstgenügsame[n], ortlose[n] und freibewegliche[n] Tafelbild" gegenüber als gewissermaßen dienende, auf ihren Kontext bezogene, nur in Abhängigkeit von diesem funktionierende Kunstgattung.
Von Künstlern wie van Gogh und Henri Matisse wurde das Dekorative ganz ausdrücklich in ihre Kunstwerke einbezogen, womit das #Dekorative ausdrücklich aus dem Bereich einer defizitären Ästhetik herausgehoben wurde. Dieser Weg setzt sich im 20. Jahrhundert fort, wie beispielsweise aus dem Gründungsmanifest des Bauhauses (1919) hervorgeht, das im Künstler "eine Steigerung des Handwerkers" sieht und als "das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit" den "Bau" bezeichnet (S. 279, Anm. 10). Damit wird die "bildnerische Tätigkeit", wird das Bild zu einer dienenden Gattung ohne jede Autonomie, die die l'art pour l'art-Bewegung zuvor für die Kunst reklamiert hatte.
Parallel dazu verschwimmen die Grenzen zwischen Kunst und Realität, indem - beispielsweise im Readymade - Alltagserscheinungen ästhetisiert und damit kunstwürdig werden.
Marcel Duchamp, Fontäne, 1917 bzw. 1964; Mailand, Sammlung Arturo Schwarz
So entstehen beispielsweise Kurt Schwitters' "Materialbilder", die er aus Überresten des Alltagslebens zusammensetzt, wie später die Werke von Joseph Beuys, der den Kunstbegriff nun ganz explizit erweitert. Und eben dort wird das 'kaufmännische Verständnis' des Darstellungsbegriffs, des bildnerischen Vorgangs als 'Seinsvorgang', bedeutsam, denn 'Darstellung' funktioniert hier nicht mehr im Sinne von 'Abbildung', sondern als Ausdruck eines 'Gegenwerts', der beispielsweise durch eine Handlung, eine Aktion entstanden, aber nicht anders 'darstellbar' ist als durch die Ausstellung ihrer Überreste (ähnlich wie Reliquien im katholischen Kult). Folgerichtig entspricht dem ein "Wandel überlieferter Werkvorstellungen", denn ein 'Werk' im herkömmlichen Sinn entsteht während dieser Aktionen nicht mehr, wie überhaupt "das Spektrum moderner Kunsterfahrungen [...] weit" ist und "Exempel subtiler Spiritualität wie triebhafter Vitalität, abgründigen Tiefsinns und unverhohlener Banalität" enthält. (S. 263)
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