Warum Kultur? Eine kurze Überlegung
Würde man eine repräsentative Umfrage in der bundesdeutschen Bevölkerung zur Frage durchführen, wozu Kultur eigentlich da ist, würde sich als Ergebnis wahrscheinlich herausstellen, dass die meisten Menschen innerhalb unserer Wohlstandsgesellschaft Kultur für einen Luxusartikel halten. Kultur muss man sich leisten können, würden sie sagen, Kultur ist etwas für die Freizeit und dient vor allem der Entspannung jener, die etwas damit anfangen können. Organisatoren von Kulturveranstaltungen machen außerdem die Erfahrung, dass Kultur häufig dort einen Platz hat, wo die Menschen sonst gerade nichts anderes vorhaben. Einen Sinn in der Kultur zu sehen, fällt vielen schwer.
Da erstaunt es, wenn man jemanden folgende Rechnung aufmachen hört oder liest:
"Wir verwenden fast auf jeden Gegenstand unserer körperlichen Ernährung oder Pflege mehr als auf unsere geistige Nahrung." (Zitat 1)
Aus dieser ungewöhnlichen Rechnung gehen zwei Dinge hervor:
1. (das Offensichtliche) dass der Aufwand, den der Mensch betreibt, um seinen Körper zu pflegen, gesund zu erhalten und gegen äußere Einflüsse zu schützen, beträchtlich ist und dass der Mensch bereit ist, sehr viel dahinein zu investieren, da er es offenkundig für notwendig hält;
2. (das Überraschende) dass er diesen Aufwand für sein Äußeres, nicht aber für sein Inneres betreibt. Hält der dies nicht für notwendig? - Drängt sich da nicht unwillkürlich das Sprichwort "außen hui, innen pfui" auf und die Vorstellung einer schmucken Fassade, hinter der sich Unrat und Schmutz sammeln? Das berühmte Sofa bei Hämpels?
Beginnen wir aber zu fragen, welche Möglichkeiten uns zur Verfügung stehen, um unser Inneres ebenso zu pflegen, wie wir es so bereitwillig mit unserem Äußeren tun, so ist die Antwort eigentlich überraschend einfach: Kunst und Kultur.
Das sind die Werkzeuge zur Pflege von Geist und Seele, die Instrumente zur Reinigung und Formung unseres Inneren - denn wenn ich sage "ich bilde mich", heißt dies ja nichts anderes, als dass ich etwas (in diesem Fall mich selbst) erbaue, forme, gestalte - eben bilde. "Bildung" heißt, sich innerlich zu formen, das Innere zu pflegen, es zu kultivieren so wie der Gärtner seine Rosen oder der Förster den Wald kultiviert. Aus diesem Grund ist Kunst und Kultur nicht etwa ein Luxus, sondern eine Notwendigkeit wie das Putzmittel, das ich verwende, wenn ich das Waschbecken säubern will. Kunst und Kultur reinigen und formen, sie pflegen und befähigen das Innere, zu gesunden und zu wachsen.
Diese Möglichkeiten ungenutzt lassen kann eigentlich nur derjenige, der davon überzeugt ist, dass sein Inneres keine Pflege benötigt - dann dürfte er sich allerdings auch nicht die Zähne putzen, denn deren Pflege wäre dann ebenso überflüssig wie die Pflege des Inneren des Menschen.
Wie notwendig - manchmal überlebens-notwendig - und segensreich diese Pflege des Inneren des Menschen sein kann, erweist sich immer wieder in existentiellen Krisensituationen, in die ein Mensch geraten kann.
So ist beispielsweise überliefert, dass zahlreiche Gefangene im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gegen ihre Entwürdigung und Entmenschlichung durch die SS anzugehen versuchten, indem sie sich künstlerisch oder kulturell betätigten: sie fertigten heimlich kleine Schnitzarbeiten an, schrieben Gedichte, spielten Theater oder veranstalteten kulturelle Themenabende. Alles das geschah unter Todesgefahr, denn die SS - die die verborgenen Kräfte der Kunst erahnte und fürchtete - duldete keine solche Betätigung und reagierte bei Entdeckung mit drakonischen Strafen.
Vor allem das Schreiben, Rezitieren und Überliefern von Gedichten, ausgerechnet diese vielleicht "sensibelste Form sprachlichen Ausdrucks", spendete den Frauen Trost und damit innere Kraft in ihrem trost-losen KZ-Alltag. Ihre ausdrückliche Begründung ist für unsere Frage nach dem Sinn von Kultur besonders aussagekräftig: weil Kunst und Kultur ihnen dabei halfen, trotz der Bedrohung durch die SS ihre Menschenwürde zu bewahren. (Zitat 2)
Zitat 1: Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer, Zürich (Diogenes) 1979/2004, S. 166.
Zitat 2: Eduard Hoffmann/ Jürgen Nendza, Das Frauen-KZ Ravensbrück; Sendung am 08. Juli 2016, 08.30 Uhr, SWR2-Wissen.
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