Lektüre-Blog: Diedrichs liest Boehm - Teil 5

Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007/ 3. Auflage 2010

S. 141-158: "Spur und Gespür. Zur Archäologie der Zeichnung".

 

"Wir nehmen den Faden der Argumentation dort auf, wo er sich verwirrt. Schwierig und verlockend ist immer diese Zeichnung oder die nächste, die wieder diese ist. Alle Fragen beginnen hier, und wenn es gut geht, werden sie hier auch wieder enden. Damit ist auch schon unsere Zugangsweise angedeutet - indem wir einige andere ausschließen. Wir insistieren auf der Sache selbst, die etwas Konkretes und Sichtbares ist, wir insistieren auf der zeichnerischen Faktur." (S. 141)

 

Das Kapitel ist am Anfang entschieden irritierend; es beginnt kryptisch. Die Schreibweise ist für einen wissenschaftlichen Text zu frei, für einen poetischen der falsche Kontext (und zudem auch nicht wirklich poetisch). Angesichts dessen fragt man sich, für wen Boehm eigentlich schreibt. Niemand anderer als er selbst kann einen solchen Beginn verstehen (jedenfalls beim ersten Lesen), zumal in dieser Terminologie. Es stellt sich der Verdacht ein, dass Boehm sich auf andere Texte anderer, berühmter Philosophen bezieht. Die berühmt-berüchtigte Intertextualität. Steht da Heidegger im Hintergrund, eine durch Heidegger geprägte Terminologie? Wer auch immer dahinter steckt - wir sind draußen. Jedenfalls so lange wir diese Frage nicht beantworten können.

 

Wer an dieser Stelle jedoch nicht aufgibt und trotz des Anfangsfrusts weiterliest, wird überrascht. Denn der Text zur "Spur" entpuppt sich - war Boehm das bewusst? - als programmatischer Text zum Verständnis moderner Kunst. Bei ihrer Rezeption geht es bekanntlich nicht um das Dechiffrieren, die akribische Entschlüsselung von genau formulierten Botschaften, die in den Kunstwerken stecken und vom Betrachter 'herausgelesen' werden müssen. Die Betrachtung moderner Kunst hat vielmehr mit Erspüren und Erahnen zu tun. Ihr Verständnis geschieht über die Verfolgung von mehr oder minder diffusen Spuren; Boehm nennt dies die Verfolgung des "Unbestimmt-Bestimmte[n]" (S. 147). Die Spuren muss der moderne Künstler nicht einmal selbst gelegt haben, in den allermeisten Fällen weiß er selbst von ihnen nichts ...

 

Gegenstand seiner Untersuchung ist tatsächlich die Zeichnung. Eine Zeichnung hat in Boehms Augen etwas Ursprüngliches, Unmittelbares, dazu Unfertiges: "Zeichnungen [...] besitzen etwas Anfängliches. Sie verleugnen ihre offenen Enden keineswegs, sondern weisen sie ganz ausdrücklich vor." (S. 141f)

Entsprechend scheint das Wesen der Zeichnung beispielsweise im Gegensatz zum Ölgemälde in ihrer Potentialität zu liegen, in den noch offenen Möglichkeiten, die ihre Anfänglichkeit und Unfertigkeit bieten. Die Zeichnung ist "noch auf dem Weg zu sich, aus dem Grund noch nicht hervorgetreten oder in ihm steckengeblieben." Aber gerade durch diese Unfertigkeit mobilisiert sie den Betrachter, aktiviert ihn, der sich nun "auf die Spur setzt". Eine Zeichnung ist gewissermaßen ein "Unterwegssein". (S. 143)

 

Damit ist schon das zweite Merkmal genannt, das moderne Kunst gegenüber älterer, vormoderner Kunst kennzeichnet: neben der Offenheit ist es die bewusste Mobilisierung des Betrachters, die moderne Kunst auszeichnet. Sicher war letztere auch schon zu früheren Zeiten Ziel einer Reihe von Bildern. Sie wollten Vorbilder sein und nachgeahmt werden, manche Bilder zwangen Betrachter, einen bestimmten Standort vor dem Bild einzunehmen (damit die Perspektive stimmte) oder sich von links nach rechts oder von rechts nach links am Bild entlang zu bewegen, um es richtig sehen bzw. 'lesen' zu können. Aber erst die moderne Kunst schaffte in ihren Werken bewusst Leerstellen, die der Betrachter selbst füllen und damit das Bild als Kunstwerk vervollständigen muss.

 

"Spur"

Im weiteren Verlauf des Texts zeigt sich, dass für Boehm der Begriff der 'Spur' sehr wichtig ist. Der Begriff führe beispielsweise über den der 'Linie', aus der Zeichnungen ja gewöhnlich bestehen, ganz bewusst hinaus, beinhalte mehr als dieser. "'Spur' umschreibt [...] generell jenes Geschehen, in dem die Zeichnung ihre Sichtbarkeit ausformt", ein Geschehen, das weit über das Setzen einer Linie hinaus geht. Was sich daraus ergibt, sind stattdessen "gerichtete und ungerichtete Energien", die sich sowohl in Linien wie in Flecken manifestieren können. (S. 145) Die Striche auf dem Blatt einer Zeichnung sind demnach also weit mehr als nur Werkzeuge zur Erzeugung einer Illusion (der Illusion eines Gegenstands oder eines Raums, die mit der Linie bezeichnet wird). Wenn sie 'Spuren' sind, verweisen sie auf etwas, das da war und das diese Spur hinterlassen hat, verweisen also auf die "Anwesenheit eines Abwesenden" (S. 146). Wenn man sie auf diese Weise liest, liest sie sich ganz anders, als es bei der Linie zur Bezeichnung eines Gegenstands der Fall ist. Sie erlaubt Rückschlüsse, die weit über jede Form der Intention, der bewussten Absicht hinaus gehen.

 

Wohlgemerkt: Es geht noch immer um eine Zeichnung, die aus einzelnen Strichen bzw. Linien besteht, die ein Künstler hinterlassen hat. Aber es ist ein faszinierender Gedanke, diese Linien als 'Spuren' statt also bloße Hilfemittel zu lesen. Man kann vieles daraus heraus lesen, das weit über das hinaus geht, was der Künstler beabsichtigt hatte (die Semiotik spricht an dieser Stelle von der 'epistemologischen Metapher').

 

Zwei Charakteristika der 'Spur' interessieren Boehm im Folgenden besonders - und wir dürfen sie getrost als Charakteristika moderner Kunst mitlesen.

 

1. Eine Spur ist niemals eindeutig, sie ist stets mehrdeutig und aktiviert Sinne des Ahnens, Fühlens, Schmeckens etc.: "die Spur adressiert sich an das Gespür als den Sinn für das Unbestimmt-Bestimmte." Das "höhere geistige Erkennen und Unterscheiden", von dem Boehm im Zusammenhang der Spur spricht, sei entsprechend "ursprünglich eng mit dem Wittern und Spüren verbunden" gewesen. (S. 147). Dieses "Wittern und Spüren" aber geht weit über Wissen hinaus, meint einen wesentlich komplexeren Vorgang der Erkenntnis, der nicht nur Kognition, sondern auch Sensation und Suggestion einbezieht.

 

Denken wir noch einmal kurz an die Kunst der Moderne: Tatsächlich sind "Wittern und Spüren", Ahnen und Assoziieren, sind Sinnlichkeits- und Fantasieleistung sehr viel mehr bei der Rezeption moderner Kunst gefordert als kognitive Vorgänge wie das Entschlüsseln vorformulierter Botschaften (die im Übrigen ihren Reiz verlieren, sobald sie entschlüsselt sind).

 

Boehm zufolge ist das Nachgehen einer Spur die "Fähigkeit, Sinnlichkeit mit Erkennen zu verknüpfen" (S. 147), und er verortet diesen Vorgang im Gemüt, das Immanuel Kant zufolge auch der Ort der Einbildungskraft ist.

Wichtig ist wohl auch die Feststellung, dass das Gespür, der "Sinn für das Unbestimmt-Bestimmte", nicht etwa angeboren oder gottgegeben ist, sondern der Übung bedarf. Es muss ausgebildet werden: "Man muss viele Zeichnungen gesehen haben, um ihrer jeweiligen Eigenart und Subtilität auf die Spur zu kommen." (S. 147) Es macht also Sinn, das Gespür immer und immer wieder zu aktiveren, es gewissermaßen zu 'trainieren'.

 

2. Darüber hinaus stellt eine Spur, Boehm zufolge, eine "unerhörte Reduktion bzw. Abstraktion" dar. Denn sie ist nicht identisch mit dem, was die Spur hinterlassen hat, vielmehr "lediglich das rudimentäre Graphem seiner vergangenen Anwesenheit, sein ganz ungewisser Vertreter." (S. 148) Zu seiner Deutung braucht es Sensibilität und Gespür, um aus ungewissen, nicht eindeutigen Zeichen, Gewissheit zu erlangen.

Die Reduktion führt dazu, dass eine Zeichnung gewöhnlich unfertig wirkt. Diese Unfertigkeit ist aber gerade ein Grund für ihre Mehrdeutigkeit. "Je reduzierter die zeichnerische Vorgehensweise, umso mehr kann sich im einzelnen Zug ein Sinnpotential verdichten." (S. 150)

 

Thema und Variation

Angesichts einer Zeichnung von Matisse arbeitet Boehm schließlich (noch einmal) einige Charakteristika der Zeichnung heraus: sie sei

  • die "Essenz des Flüchtigen",
  • sie gleiche "der tastenden Bewegung in einem dunklen Raum" (S. 152) - so hat Matisse offenbar über sie gesagt -,
  • sie sei mehr der Initiator als das Ergebnis einer Ahnung,
  • das Dokument eines Augenblicks, das die Spuren seiner Vergänglichkeit und Prozesshaftigkeit nicht auszulöschen versucht,
  • schließlich eine Herausforderung an den Betrachter, der aktiv werden muss, weil die "Partituren aus Linien [...] sich erst im Auge mit Leben und Gehalt erfüll[en]." (S. 153)

"Die Linie, ihrer faktischen Beschaffenheit nach ein materieller Federstrich, verwandelt sich durch den zeichnerischen Akt in etwas Aktuelles, in eine anschauliche Energie, die semantisch vielseitig besetzt ist." (S. 154)

 

Blick - Hand - Schema

Ein weiteres Charakteristikum der Zeichnung ist, Boehm zufolge, ihre Fähigkeit, zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit, Eindimensionalität und Mehrdimensionalität hin und her zu schwanken. Boehm nennt das den "Tonos" und spricht von der "Aufladung der Linie mit einem temporalen Hin und Her" (S. 155) - eine nur der Kunst zugängliche Möglichkeit, möchte man meinen. Eine "temporale Synthese [...], in der Herkunft und Zukunft der Linie miteinander verschränkt werden." (S. 156)

 

Wesentlich für diese Art des 'offenen Kunstwerks' - der Zeichung bzw., wie ich ergänzen möchte: der modernen Kunst - ist also das Gespür. Es befähigt den Blick, "bis an die Grenzen seines Defizits", bis an seine Grenzen vorzudringen: "er nähert sich der Welt, dringt in jede Pore der Oberfläche ein, sie erscheint zum Greifen nah, ohne jedoch je ergriffen zu werden." (S. 156ff)

"Das Gespür [...] ist Nah- und Fernsicht zugleich, detailversessen und ins Weite strebend."

Viele Zeichnungen, so führt Boehm abschließend aus, erlauben einen Blick hinter die Kulissen" des Entstehungsprozesses eines Kunstwerks, das wir ohne diese Möglichkeit nur als 'fertig', als abgeschlossenes, in sich ruhendes Resultat kennenlernen würden. "Im Anfänglichen der Zeichnung manifestiert sich eine authentische Weise der Welterzeugung." (S. 158)

 

 

 

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