Der folgende Text ist nicht ausdrücklich für unsere Zeit, das 21. Jahrhundert, geschrieben, aber er ist bestürzend wahr. - Ich stelle seinen eigentlichen Beginn an den Schluss.
"Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen [...], dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen [...] den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln [Gesetze und Vorschriften], diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun."
Dieser Text(beginn) stammt aus dem Jahr 1784. Er stammt von Immanuel Kant (1724-1804). Mit ihm beginnt Kant seine kleine Abhandlung "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" Veröffentlicht wurde der Text zuerst in der Berlinischen Monatsschrift im Dezember 1784 (S. 481-494). Ich zitiere ihn nach der von Horst D. Brandt im Felix Meiner Verlag (Hamburg) 1999 herausgegebenen Ausgabe in der Philosophischen Bibliothek (Bd. 512, S. 20f).
Der berühmte Beginn des Texts lautet:
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Angesichts des Zeitpunkts seiner Entstehung stellt sich die Frage, welchen Fortschritt unsere Gesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gemacht hat. Sind wir wirklich so viel weiter, als es die Gesellschaft am Beginn der Aufklärung war? Wie weit ist die Aufklärung also gediehen?
Übrigens ist es frappierend, wie genau zu Kants Überlegungen die Beobachtungen Henry David Thoreaus bezüglich der 'geistigen Verwahrlosung der Menschen' passen:
"Wir verwenden fast auf jeden Gegenstand unserer körperlichen Ernährung oder Pflege mehr als auf unsere geistige Nahrung. [...] Es ist Zeit, dass Dörfer zu Universitäten werden und die ältern Einwohner Universitätsmitglieder, mit der Muße - wenn sie dazu Geld genug haben -, ihr übriges Leben freien Studien zu widmen. [...] Ach, vor lauter Viehfüttern und Ladenhüten sind wir zu lange der Schule fern geblieben, und unsere Erziehung [womit Thoreau vornehmlich die Bildung meint] ist in traurig verwahrlostem Zustand." (Zitiert nach: Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern. Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer, Zürich 1979/2004, S. 166f.)
Auch dieser Ausspruch stammt aus einer anderen Zeit (er wurde 1852/54 zum ersten Mal veröffentlicht), passt aber dennoch sehr gut auf unsere Zeit und gesellschaftliche Situation - einschließlich der weit verbreiteten Prioritäten angesichts körperlicher vs. geistiger Fitness.
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