Zunächst noch ein kurzer Nachtrag zur Einführung (Lektüre-Teil 1):
Faszination und Argumente
Wenn Boehm darauf hinweist, dass der Mensch in Wirklichkeit ein 'ikonisches' Wesen sei, dass er also wesentlich in Bildern denken würde, statt in Sprache und in Begriffen, so unterscheidet sich diese Sicht nicht unwesentlich von jenem Selbstverständnis der Menschheit, wie sie seit der Hinwendung unserer Kultur zur Schrift im 16. Jahrhundert vorherrschend war. Dieses Selbstverständnis beruhte im Wesentlichen auf der Vorstellung, dass der Mensch mithilfe der Sprache die Wirklichkeit sehr viel besser in ihre Einzelteile zerlegen, durchdringen und verstehen könne, als durch die Verwendung von Bildern.
Wenn Boehm den Menschen aber nun im Gegenteil als 'bildlich denkendes Wesen' definiert, so basiert diese Neubewertung auf der folgenreichen Unterscheidung zwischen Sprache und Bild.
An dieser Stelle führt Boehm den zentralen Begriff des Zeigens (Deixis) ein. Er unterscheidet im Folgenden zwischen Sagen und Zeigen, im Grunde also zwischen Sprache und Bild, und warnt - getreu seiner Vorgabe, das Bild wirklich ernst zu nehmen, vor der Annahme einer allzu starken "Überformung der Bilder durch sprachliche Muster" (S. 15). Zu einer solchen 'Überformung' neigten wir gewöhnlich, wenn wir davon ausgehen, dass Bilder nichts anderes tun, als das, was irgendwo sprachlich niedergelegt ist, in ein anderes Medium - und auf diese Weise möglichst 'verständlicher' - zu übertragen. Stattdessen gesteht Boehm den Bildern ein "deiktisches Potential" zu, also die Fähigkeit zu Zeigen, wobei dieses Zeigen bei einem Bild eben nicht an sprachliche Fixierung gebunden ist, also gerade über eine Beschränkung durch Sprache hinausgeht: ein Bild zeige mehr, als tausend Worte sagen, aber offensichtlich neigt der Mensch dazu, sich auf das durch Worte Sagbare zu beschränken, statt das 'deiktische Potential' wirklich auszukosten. Auf diese Weise gehe gerade der "eigentliche, der sinnliche Überschuss" verloren. Dabei sei gerade er es, der dem bloß "materiellen Sachverhalt etwas Sinnhaftes" verleihe und auf diese Weise "den Dialog mit dem Auge in Gang" bringe. (S. 15)
Boehm nennt diese Differenz zwischen dem materiellen Bild und seinem Umschlagen in Sinn, der begrifflich nicht einmal genau fixierbar sein muss, sondern eher in seiner Wirkung bestehe, das "Modell der ikonischen Differenz." (S. 16)
S. 19-33: Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Zeigens
Ausgangspunkt dieses Kapitels ist das Erstaunen darüber, dass ein Bild, also ein materieller Gegenstand, ein totes oder zunmindest passives 'Ding', eine aktive Handlung vollziehen können soll, die Zeigen tatsächlich ja ist, dass es noch dazu Sinn und Wirkung erzeugen soll.
Boehm führt am Beginn dieses Abschnitts geradezu einen kleinen Feldzug gegen die weitverbreitete Unterordnung des Bilds unter das Wort, also des Zeigens unter das Sagen. Auch wenn es über den allergrößten Teil der abendländischen Kunstgeschichte hinweg eine enge Verbindung zwischen beiden gebe, gelegentlich sogar "schwache Bilder an der Leine bedeutungsschwerer Begriffe geführt" würden (S. 19), so bleibe das Vereindeutigen durch Sprache doch eine ausdrückliche Beschränkung von Bildern und Bildlichkeit.
Das Zeigen - das Bild - sei eben nicht ein "bloßes Supplement des Sagens - des Texts -, "ein trüber Mond, der uns nur deshalb leuchtet, weil ihm die Sonne der Sprache von ihrem Licht geliehen hat." (S. 19f)
Diese Annahme sei vielmehr "ein folgenreicher, ein historischer Fehlschluss" - kursiv gesetzt und damit entsprechend betont, offenbart dieses Wort eine Betroffenheit, geradezu ein Ungehaltensein Boehms, das vielleicht darauf zurückzuführen ist, dass sich dieser historische Fehlschluss so hartnäckig hält. Aber das Bild und die Schrift, Zeigen und Sagen, sind unterschiedliche Medien, die je Eigenes transportieren und ausdrücken können. Jedes von ihnen hat seine Eigenarten, Vorzüge und Möglichkeiten, die es dem anderen voraus hat. Das eine dem anderen unterzuordnen, ist demzufolge eine Form von Ignoranz.
Oder, mit Ludwig Wittgenstein gesprochen: "Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden." (S. 20)
Allerdings steckt, Boehm zufolge, die Bildwissenschaft, anders als die Sprachwissenschaft, als "Auslegeordnung" erst noch in ihren Anfängen.
In ihren Anfängen steckt sie auch deshalb noch, weil sich erst langsam zeigt, dass das Zeigen nicht nur ein Hinterzimmer des Sagens ist, sondern ein eigener Kosmos. Das Zeigen, Deixis, so lautet Bohmes These, "eröffnet [...] eigene Zugänge zur Welt", die nicht Hilfestellungen sind, "wenn mit dem Aplhabet nicht durchzukommen ist, jenen zugedacht, die es noch immer nicht begriffen haben." (S. 21)
Tatsächlich offenbart diese Formulierung, dass Boehm die Geduld auszugehen scheint angesichts der noch immer weit verbreiteten Einschätzung des Bildes als einer defizitären Form der Sprache.
Im Folgenden beschäftigt sich Boehm intensiver mit dem Zeigen: wie funktioniert es? woher nimmt es seine Kraft? Als Versuch befragt er dazu das menschliche Gebärdenspiel, indem er einen Menschen, in diesem Fall den Philosophen Martin Heidegger, während eines Gesprächs beobachtet. Und im Wesentlichen entdeckt er dabei zwei Arten des Zeigens (die auch für das Verständnis des Bilds und seiner 'Lesbarkeit' wichtig sein werden): das Zeigen auf etwas und das Zeigen auf sich selbst.
Was daran besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass dieses erste Zeigen, das Zeigen auf etwas, eine intendierte, beabsichtigte Form des Zeigens ist, während die zweite, das Zeigen auf sich selbst, eine nicht-intendierte, eine dem Zeigenden selbst meist nicht bewusste, deswegen aber nicht weniger aussagekräftige Art des Zeigens ist. Im Gespräch zweier Menschen geschieht diese u.a. durch Haltung und die Lebendigkeit von Mimik und Gestik und betrifft Dinge, um die es in dem Gespräch primär gar nicht gehen muss.
Zwei Arten des Zeigens also. Die ausdrückliche und bewusste von beiden (in der Kunst sprechen wir von der Ikonographie) ist systematisch dechiffrierbar, wie es einem bewusst gewählten Zeichenrepertoire eigen ist. Die unbewusste dagegen ist lediglich annäherungsweise deutbar, setzt dafür aber sehr viel mehr als die Kenntnis einschlägiger Lexika voraus. Und sie bleibt am Rand immer unscharf, denn das Zeigen weist in diesem Fall über die Sprache, das eindeutig Sagbare, hinaus.
"Der Körper [ist] kein Zeichen, das sich entschlüsseln ließe, wenn schon, dann ist er der Schauplatz möglicher, im Übrigen meist vieldeutiger oder, was auf's Gleiche hinausläuft, deutungsloser Zeichen." (S. 27)
"Was Gesten zeigen, geht niemals in dem auf, was sie zu sagen scheinen. Denn der Überhang des Körpers bringt Tonos, Timbre, Rhythmus, ein Flair ins Spiel. Sie erst geben der Gestik ihre Prägung, ihren Zusammenhang und ihren Nachdruck, das heißt ihren spezifischen Sinn." (S. 27)
Was lernen wir daraus für das Zeigen, also die Funktionsweise des Bilds, der Kunst?
Boehm macht am Beispiel von Giorgiones Porträt einer alten Frau deutlich, was sich einerseits "sagen lässt", wofür es andererseits jedoch "ein Bild braucht" (S. 28), worauf also nur ein Bild verweisen kann, weil es sich der Eindeutigkeit der Sprache entzieht. Das Bild zeichne sich nämlich durch eine potentielle Simultaneität aus, die der Sprache nicht im gleichen Maße zukomme. Es gehe in seiner Vielschichtigkeit immer noch über das sprachlich Fixierbare hinaus: "simultane Realitäten [aber] lassen sich ausschließlich zeigen." (S. 29)
Anders als es beim Wort der Fall ist, "verkörpert" das Bild (im wahren Wortsinn) die Inhalte, die ihm bewusst und unbewusst zugrunde gelegt wurden, und in dieser Verkörperung bleibt die ganze Komplexität dieser Inhalte erhalten. Was dabei beispielsweise bei einem Porträt wir Giorgiones "La Vecchia" herauskommt, nennt Boehm "eine intrikate Erscheinungsdichte", die nicht selten nur schwer zu entziffern, in keinem Fall aber in allen seinen Facetten und Bezügen in Worte zu fassen sei. (S. 30) Eine solche "Erscheinungsfülle" lasse sich vielmehr ausschließlich zeigen. (S. 31)
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