Über die Betrachtung von Kunstwerken

Vorabveröffentlichung:

Der folgende Text ist der Einleitung zu Band 2 der Reihe "einblicke" (Titel: "Das Paradies bleibt verloren. Gauguins Südseebilder") entnommen, der in wenigen Tagen erscheinen wird. Er findet sich - ergänzt um die hier fehlenden Abbildungen und Anmerkungen - auf den Seiten 9 bis 21 des Buchs.

 

 

„Kommt Kunst von Können?“ Diese Frage ist häufig zu hören, wenn es um so genannte moderne Kunst geht, und die Antworten darauf könnten unterschiedlicher nicht ausfallen. Dabei ist schon die kurze Frage missverständlich.

 

In der Regel wird sie gestellt, wenn ein Kunstwerk offensichtliche oder scheinbare technische Mängel aufweist. Obwohl das entsprechende Werk allgemein für Kunst gehalten und in einer Ausstellung oder einem Museum präsentiert wird, fragt sich der unbedarfte Betrachter unwillkürlich, ob der Künstler das „nicht besser gekonnt“ habe. Geschmack und Verständnis des Kunstliebhabers noch im 21. Jahrhundert sind geschult an Raffaels Madonnen und Leonardos Mona Lisa und werden beim Besuch der Ausstellung eines ‚modernen‘ Künstlers mit einer völlig andersartigen Malerei konfrontiert. Angesichts von mangelnder Schönheit oder gar Unansehnlichkeit aber stellt sich automatisch die Frage nach dem ‚Können‘ des Malers ein.

 

Noch hilfloser klingt die Frage, wenn im Betrachter das Gefühl aufkommt, dass er selbst oder seine kurz vor der Einschulung stehende Tochter das mindestens ebenso gut hinbekommen würde.

 

Wenn dem aber so ist, warum ist dies dann Kunst und das Bild der Tochter nicht?

 

 

Kunst und Können

 

Wenn wir diesen inneren Monolog genau verfolgen, erkennen wir schnell, dass es darin nicht wirklich um Kunst geht.

 

Die Frage, warum etwas Kunst sei, ist nicht zu beantworten, ohne vorher geklärt zu haben, was eigentlich unter Kunst zu verstehen ist. Der Vorstellung des Betrachters beispielsweise vor Picassos Gemälde Les Demoiselles d'Avignon (Abb.) aber – einem Werk, das spätestens durch den Ankauf des New Yorker Museum of Modern Art ganz offiziell zu einem ‚echten‘ Kunstwerk erklärt worden ist – liegt die Überzeugung zugrunde, dass Kunst zweifellos von Können kommen, dass sich Kunst sogar durch einen besonderen Grad von Können auszeichnen müsse, der dem, was der Laienmaler zustande bringt, technisch weit überlegen ist. Ein echter Künstler muss dieser Vorstellung zufolge ‚besser‘ sein als der Laie, was gewöhnlich meint, dass er wirklichkeitsgetreuer malen können müsse. Seine Porträts muss man auf den ersten Blick erkennen und seine menschlichen Körper müssen ‚stimmen‘.

 

Doch schon bei diesen Gedanken bemerken wir, dass wir uns auf eigenartige Weise verrannt haben. Wenn wir genauer hinsehen, wird deutlich, warum: Wir denken auch hier in Wirklichkeit nicht über Kunst nach. Zumindest widersprechen dem unsere Kenntnisse der Geschichte der Kunst, zu der eben auch und sogar auf epochemachende Weise ein Werk wie Les Demoiselles d'Avignon gehört. Das Bild ist aber durchaus nicht wegen seiner wirklichkeitsgetreuen Darstellung jener Bordellszene bekannt, die Picasso 1907 im berüchtigten Bateau Lavoir auf dem Montmartre vor seinem inneren Auge gehabt haben muss. Worüber wir stattdessen eigentlich nachdenken, ist vielmehr Technik, ist Handwerk. Wenn Kunst von Können käme, müsste sich das Kunstwerk vor allem durch seine handwerkliche Vollkommenheit auszeichnen, die das ‚echte‘ Kunstwerk vom Produkt eines Laienmalers unterscheiden würde. Mit Kunst aber hat das tatsächlich wenig zu tun.

 

Technik und Handwerk können erlernt werden, bei genügendem Fleiß ist auf diesem Weg sogar mangelnde, künstlerische Begabung auszugleichen. Aber Technik und Handwerk sind nicht Kunst, vor allem entscheiden sie nicht über höheren oder niedrigeren künstlerischen Rang. Nicht der ist ein größerer Künstler, der die Technik des Malens besser beherrscht, selbst wenn Raffael und Leonardo sich zweifellos durch eine besondere Souveränität und Virtuosität in der Nutzung der technischen Möglichkeiten der Malerei auszeichneten.

 

Aber war es das, was sie zu großen Künstlern machte?

 

Warum sind die Lehrer dieser Genies in der Vorstellung von Zeitgenossen und Nachwelt dann nicht ebenso große Künstler?

 

Kunst muss etwas Anderes sein, als die meisterhafte Beherrschung und Anwendung technischer Mittel. Kunst ist mehr als das. Kunst setzt Können voraus, aber Kunst kommt nicht von Können!

 

Können reicht für die Kunst nicht aus.

 

 

Vom Amateur zum Künstler

 

Tatsächlich ist es in der Geschichte der Kunst immer ein langer Weg vom begabten Amateur zum Künstler, und bis zum heutigen Tag führt er stets über eine gründliche Ausbildung – nicht immer an einer staatlichen Akademie –, in deren Verlauf der Schüler die technischen Möglichkeiten und damit sein Handwerkszeug erlernt.

 

Als der italienische Maler Cimabue (1240–1302) um das Jahr 1276 in der Nähe von Florenz auf einen Hirtenknaben mit Namen Giotto stieß und sah, wie dieser allein kraft seines natürlichen Talents Schafe auf Steinplatten zeichnete, da stand dem Hirtenknaben, der zum Vorläufer der Renaissance in Italien heranwachsen sollte, noch ein langer Weg der Ausbildung bevor. Cimabue nahm ihn in die Lehre, doch was er ihm beibringen konnte, das war allein das Handwerk der Malerei. Zwischen dem Lehrer und seinem Schüler sollte es eine Epochenschwelle geben, wie es sie innerhalb der abendländischen Kunstgeschichte kaum ein zweites Mal gegeben hat. Giotto (1266–1337) sollte es sein, der sie heraufbeschwor. Die Beherrschung des malerischen Handwerkszeugs war dabei nur die Voraussetzung, nicht aber der Grund für die Epochenschwelle.

 

Als Paul Gauguin 1876 zum ersten Mal am so genannten Salon, der jährlichen, großen Kunstausstellung in Paris, teilnahm, war er noch Autodidakt – ein Laienmaler. Aber als er sieben Jahre später seine lukrative Arbeit an der Börse und damit seine Karriere als Bankkaufmann aufgab und sich entschied, Maler zu werden, hatte er im Kreis der Impressionisten in Paris bereits viele Maler kennengelernt, von denen v.a. Camille Pissarro (1830–1903) sein Lehrer wurde. Ein Bild wie Die nähende Suzanne (1880; Abb.) zeigt nicht nur, dass er in dieser Zeit stark vom Impressionismus beeinflusst wurde, sondern ebenso, dass er sein Handwerkszeug beherrschte. Gauguin konnte malen, das zeigen die Bilder dieser Zeit, und damit rücken seine späteren, nicht selten unbeholfen, ja grobschlächtig wirkenden Werke in ein anderes Licht. Denn damit ist klar, dass das Unbeholfene nicht etwa technisches Unvermögen, sondern vielmehr bewusst kalkulierte, künstlerische Absicht war.

 

Manche Galeristen stellen bis heute ausschließlich solche Künstler aus, die eine Ausbildung an einer staatlichen Akademie nachweisen können. Was auf den ersten Blick irritierend wirken mag, stellt sich bei näherem Hinsehen als der Versuch heraus, sich selbst und potentielle Kunden gewissermaßen offiziell darüber zu versichern, dass scheinbare technische Unvollkommenheit in Wirklichkeit der souveräne Einsatz künstlerischer Mittel ist, selbst wenn man es dem Werk nicht ansieht. Wenn Picasso, wie er behauptet haben soll, schon als Kind malen konnte wie Raffael, wenn er also technisch ebenso versiert war wie die Alten Meister, dann muss es eine bewusste Entscheidung gewesen sein, dieses Können nicht anzuwenden und sich stattdessen zu bemühen, wie ein Kind zu malen. Dann aber stellt sich, wenn es um die Kunst Picassos geht, nicht mehr die Frage nach seinem handwerklichen Können, sondern vielmehr nach der Begründung für die befremdende Entscheidung, auf die Anwendung dieses zweifellos vorhandenen handwerklichen Könnens zu verzichten.

 

Damit aus der Malerei eines Laien Kunst wird, ist diese Entscheidung essentiell: die Entscheidung für oder gegen, also die souveräne Wahl bestimmter künstlerischer Mittel, zu denen auch scheinbare Unbeholfenheit zählen kann. Diese Wahl betrifft nicht den Gegenstand der Malerei, also was dargestellt werden soll, sondern vielmehr die Art, also das Wie der Darstellung. Wie wir an Picassos Demoiselles (Abb.) sehen können, wird es für die Malerei des 20. Jahrhunderts geradezu obligatorisch, mehr die verwendeten künstlerischen Mittel zum Träger der beabsichtigten Aussage zu machen, als es der Gegenstand selbst ist, der dargestellt wird: Es ist die Art der Malerei, die aus der bloßen Abbildung eines Gegenstands oder einer Situation ein Kunstwerk macht.

 

Picasso zeigt in seinem deutlich überlebensgroßen Bild (ca. 244 x 234 cm) eine Situation im Bordell: Fünf gänzlich nackte Frauen posieren stehend oder sitzend vor dem Betrachter. Sie nehmen bestimmte, aussagekräftige Haltungen an, die vor allem ihre Nacktheit und die Rundungen ihrer Körper zur Schau stellen und es dem Betrachter ermöglichen sollen, seine Wahl zu treffen. Vorne in der Mitte liegen einige Früchte wohl auf einem Tischchen, darunter Weintrauben, eine Birne und eine Melonen-Scheibe.

 

Das ist das Was dieser Darstellung.

 

Hätten wir das Bild nicht vor uns und würden allein diese Beschreibung lesen oder hören, so schwebte vor unserem inneren Auge zweifellos ein Bild, das an Pornographie grenzte: rote Samtvorhänge, schummriges Licht, ein sinnliches Stillleben mit reifen Früchten und vor allem wunderschöne, weibliche Körper in lasziven Posen, einladendes Lächeln.

 

Picassos Bild zeigt jedoch etwas gänzlich Anderes. Aufgrund der Verwendung bestimmter künstlerischer Mittel wird aus einer schwülen Bordellszene die aggressive Darstellung verunstalteter, zerschnittener Körper, die den Betrachter halb anklagend, halb bedrohend anstarren. Archaische Kräfte werden spürbar und erzeugen diffuse, nicht weniger archaische Ängste. Von Sinnlichkeit oder anstößiger Schönheit jedenfalls, wie sie eine Bordellszene erwarten ließe, ist hier nichts zu bemerken.

 

Diese Wirkung aber resultiert allein aus dem Wie der Darstellung, welches das Was der Darstellung dominiert und die Aussage des Bilds maßgeblich prägt. Es lenkt sie in eine vollkommen andere Richtung als die erwartete und macht die Darstellung der eigentlich anzüglichen Szene – jedenfalls aus der Sicht der Nachwelt – geradezu gesellschaftsfähig.

 

 

„Fehler“

 

Es ist also diese Unterscheidung zwischen dem Was und dem Wie der Darstellung, die bei Picassos epochemachendem Werk zwischen Pornographie und Kunst unterscheidet.

 

Das ist nicht erst seit der Moderne so. Schon seit frühester Zeit, lange vor der Entdeckung der Ölfarbe oder der Entwicklung der so genannten Zentral- oder Fluchtpunktperspektive im 15. Jahrhundert, verfügten die Künstler über die Mittel, etwas so oder anders darzustellen. Der gekreuzigte Christus kann im 10./11. Jahrhundert realistisch und leidend oder stilisiert und triumphierend dargestellt werden. Dabei hat die Art der Darstellung nichts mit dem handwerklichen Können des Künstlers, sondern allein mit der beabsichtigten Aussage zu tun.

 

Dass der zwölfjährige Jesus im Tempel auf einer kunstvollen Illumination des so genannten Queen Mary’s Psalter im British Museum in London (Abb.) nicht wirklich wie ein zwölfjähriger Knabe aussieht, sondern jünger, hat durchaus nichts mit der Tatsache zu tun, dass der Maler am Beginn des 14. Jahrhunderts „noch ein bisschen unbeholfen“ malt (was er nicht tut) und „keine wirklichen zwölfjährigen Buben angeschaut haben mag“ (was nicht vorstellbar ist.) Vielmehr handelt es sich auch hierbei um ein von Künstler und Auftraggeber bewusst eingesetztes, künstlerisches Mittel; denn das Wunder jener Begebenheit, von der das Evangelium berichtet, wird umso größer, je kleiner der ‚Bub‘ dargestellt wird. Einen wirklich wie ein Zwölfjähriger aussehenden Jungen zu malen, lag also gar nicht in der Absicht des Malers, seine Aussage geht stattdessen in eine ganz andere Richtung, die er jedoch nicht allein in das Was, sondern vor allem in das Wie der Darstellung kleidet.

Scheinbare Fehler in Kunstwerken sind in Wirklichkeit, da wir handwerkliche Unvollkommenheit bei Künstlern von hohem Rang grundsätzlich ausschließen können, nicht etwa Fehler. In Wirklichkeit sind dies bewusst hinterlassene Spuren, Fingerzeige, die zur eigentlichen Aussage des Bilds führen. Diese geht praktisch immer über die reine Nacherzählung einer beispielsweise biblischen Szene hinaus und ist vor allem über die Abweichungen vom bekannten, ikonographischen Muster* zu entschlüsseln.

 

Es sind also gerade die scheinbaren Fehler wie der ‚zu klein‘ geratene Jesus-Knabe, die als Fingerzeige in die Richtung der jeweiligen Bildaussage weisen.

 

Das wird in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts noch deutlicher. Nun entwickeln die Künstler immer neue künstlerische Mittel und beginnen, sie immer mehr ins Zentrum nicht allein ihrer eigenen, sondern auch der Aufmerksamkeit des Betrachters zu rücken. Die künstlerischen Mittel, das Wie der Darstellung, werden tatsächlich zu einem der Haupt-Themen der Kunstwerke, verselbstständigen sich – je weiter wir in der Zeit fortschreiten, umso mehr – vom Medium zur eigentlichen Botschaft.

 

Als beispielsweise Édouard Manet 1863 sein Picknick im Freien ausstellte (Abb.), erregte es nicht allein dadurch einen Skandal, dass hier eine nackte Prostituierte zu sehen ist, die den Betrachter unverhohlen-auffordernd ansieht, sondern auch, weil das Bild mit seiner Größe von 208 x 265 cm rein formal, allein aufgrund seiner künstlerischen Mittel, Anspruch auf die Zugehörigkeit zur bedeutsamsten Gattung von Bildern, den Historienbildern, erhob. Zu diesen gehörten gewöhnlich vor allem Szenen aus der Bibel, der Mythologie und aus der Geschichte, die den Betrachter erheben und an die Tugenden des Menschseins gemahnen sollten, nicht aber Genrebilder mit einem derart anzüglichen Motiv wie einer nackten Prostituierten beim Picknick im Bois de Boulogne.

 

Außerdem aber – und dies war aus der Sicht der Kunstliebhaber und -kenner vielleicht noch skandalöser – schien den Betrachtern das Bild nicht fertig zu sein. Die Blätter und Baumstämme sind nicht detailliert ausgearbeitet, und selbst das Stillleben im linken Vordergrund wirkt skizzenhaft. Einige Kritiker bemängelten die undifferenzierte Farbgebung, ein anderer „witzelte, Manets Pinselführung mangele es derart an Gefühl, dass der Maler ebenso gut einen Wischmopp verwenden könne.“ Unwillkürlich stellt sich die Frage, ob Manet vielleicht nicht genügend Zeit für die Fertigstellung gehabt hat. Man weiß ja, dass Maler noch an ihren Werken arbeiteten, als sie bereits in den Ausstellungsräumen an der Wand hingen und die ersten Ausstellungsbesucher eintrafen.

 

Wenn dies aber nicht der Grund, wenn es also keine technische Frage war, die Manet zu dieser provozierenden Art der Ausführung zwang – und wir können dies aus verschiedenen Gründen ausschließen –, dann muss es sich bei dieser wenig feinen Pinselführung und Farbgebung um Absicht, also ein bewusst eingesetztes künstlerisches Mittel handeln, mit dem der Maler einen bestimmten Zweck erreichen wollte.

 

Doch: welchen? Was wollte Manet damit erreichen, dass er Betrachtern, die Bilder vor allem wegen ihres detaillierten „Naturalismus“ schätzten, ein handwerklich augenscheinlich mangelhaftes Werk präsentierte?

 

Schon das Was der Darstellung, die Personen und Gegenstände, wirkten auf die Betrachter provozierend, doch mehr noch war es das Wie, das sie schockierte und empörte. Zweifellos steckt aber gerade dahinter ein Kalkül, eine Absicht, die tief in die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts hineinführt.

 

 

Der berühmteste Maler des 19. Jahrhunderts

 

Um diese Zusammenhänge genauer darzustellen, müssten wir uns intensiv mit der Geschichte der Kunst vor allem in der Neuzeit und der Moderne beschäftigen. Dafür fehlt in diesem Bändchen der Raum; wir werden die Frage innerhalb der Buchreihe „einblicke“ jedoch sukzessive weiter verfolgen. An dieser Stelle sei nur ein kurzer Seitenblick erlaubt.

 

Die aus der Sicht der Zeitgenossen berühmtesten und am besten bezahlten Maler des 19. Jahrhunderts waren nicht etwa Paul Cézanne, Èdouard Manet, Claude Monet, Vincent van Gogh oder Paul Gauguin. Dass alle diese und sehr viele ihrer Kollegen über große Zeiträume hinweg mit ihrer Kunst kaum genug Geld verdienten, um sich davon ernähren zu können, ist allgemein bekannt.

 

Der berühmteste und am besten bezahlte Maler des 19. Jahrhunderts war vielmehr Ernest Meissonier (1815–1891; Abb.). Er ist heute weitgehend vergessen. Meissonier tat sich lange Zeit besonders als Maler von kleinen Genreszenen des 17. und 18. Jahrhunderts und später von Historienbildern seines Idols Napoleon Bonaparte hervor, wobei er eine besondere Vorliebe für die Darstellung von Soldaten und – vor allem – von Pferden entwickelte; nicht selten erwecken seine Bilder den Eindruck, als seien Schlachtenbilder oder Herrscherporträts in Wirklichkeit nur der Vorwand für die möglichst detailgenaue Darstellung von Pferden und Reitern in Ruhe oder dramatischer Aktion. Was beispielsweise in dem Bild 1807. Napoleon I. in der Schlacht von Friedland (ca. 1861–1875) auf den ersten Blick aussieht wie eine hyperrealistische Szene nach einer siegreichen Schlacht, erweist sich bei näherem Hinschauen als in höchstem Grad künstlerisch inszenierte Darstellung von Reitern während einer Schau-Attacke, als Bearbeitung eines Bilds wild galoppierender Pferde unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden, künstlerischen Mittel, darunter Bildgröße und Format, Ausschnitt und Blickwinkel, Komposition, Perspektive, Linien- und Lichtführung, Farbgebung, der Einsatz von Ruhe und Bewegung sowie weitere Formen der Blickführung.

 

Meissonier, dessen Bilder häufig noch während oder sogar schon vor der Ausstellung im Salon für horrende Preise verkauft wurden, forderte die Betrachter vor seinen Bildern gerade zum genauen Hinsehen auf, stellte buchstäblich jeden einzelnen Grashalm dar und erhob dabei den Anspruch, diesen vor allem richtig darzustellen. Eine besondere Rolle spielte in seinen Werken ein Phänomen, das auch beispielsweise William Turner (1775–1851) beschäftigte: Geschwindigkeit. Aber anders als die Herangehensweise Turners, der nach adäquaten künstlerischen Mitteln zur Darstellung des Phänomens suchte, war die Herangehensweise Meissoniers eher eine handwerkliche. Er studierte Pferde im gestreckten Galopp und ahmte die Bilder, die sich ihm in der Natur boten, auf der Leinwand so detailreich und anatomisch genau wie nur möglich nach. Dazu ließ er nicht nur seinen Sohn Charles bei Spazierritten oder Kürassiere auf dem Exerzierplatz galoppieren, während er nebenher ritt und „den Rhythmus und die Abfolgen in den Bewegungen des Pferdes“ studierte; er ließ sogar auf dem Gelände seines Anwesens in Poissy neben einer Reitbahn eigens eine Miniatureisenbahn erbauen und notierte sich, indem er sich auf einem kleinen Waggon neben dem Reiter her ziehen ließ, „hastig die Abläufe, das Spiel der Muskeln, jede Einzelheit der Bewegungen und die verschiedenen Wechsel“. Anschließend arbeitete er die Ergebnisse dieser Studien in jahrelanger, akribischer Feinarbeit in seine Gemälde ein.

 

Wer indessen ein solches Bild betrachtet, stellt schnell fest, dass die scheinbare Bewegung wie eingefroren erscheint. Es ist derselbe Effekt, den wir von einem Schnappschuss kennen. Wir sind gewohnt, die Bewegung in ein solches Bild hineinzusehen. Aber darin steckt sie nicht.

 

Und so erscheint ein solches Gemälde schnell nicht mehr als ein Werk der ‚großen‘ Kunst. Es mag handwerklich-technisch faszinieren, wie die Bilder der Frühen Niederländer im 14. Jahrhundert aus genau diesem Grund faszinieren; die Motive – die Pferde – mögen Pferdeliebhaber begeistern; die Darstellung der Bewegungsabläufe der Pferde mag jene fesseln, die sich mit diesen Bewegungsabläufen oder auch mit der Schwierigkeit ihrer Wahrnehmung noch vor der Erfindung der Serienfotographie beschäftigen. Aber damit ein solches Gemälde als ein großes Kunstwerk gelten kann, fehlt ihm etwas. Technische Virtuosität ist eben nicht Kunst. Die Kunst kann sogar darin bestehen, auf eine solche Virtuosität bewusst zu verzichten.

 

Die Kunst steckt in dem, was zum handwerklichen Können hinzukommt. Und dieses ist mehr in der Persönlichkeit des Künstlers zu finden und in seinen Beweggründen zur Wahl bestimmter, künstlerischer Mittel als in scheinbar objektiven Kriterien wie Wirklichkeitsnähe, Detailreichtum oder ‚richtige‘ Proportionen. Dies kann auch die Fotographie, dafür braucht es in der Tat keine Malerei.

 

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zeigte sich, dass die genaue Abbildung der äußeren Wirklichkeit nicht die Aufgabe der Kunst ist. Tatsächlich wurde diese Funktion gerade von der Fotographie übernommen, die sie wesentlich besser zu erfüllen schien als die Malerei. In der Kunst ging es stattdessen um Anderes. Und Paul Gauguin gehörte zu jenen, die diesen Weg als erste beschritten. Er war nicht der erste, aber er ging den Weg mit einer Entschiedenheit, mit der er für viele zum Vorbild und Vorreiter wurde.

 

Wenn Sie diesen Text kommentieren möchten, beachten Sie bitte, dass die Anmerkungen, die hier aus Platzgründen weggelassen worden sind und sich nur im Buch finden, notwendig zum Text hinzugehören.

Möchten Sie Teile aus diesem Text zitieren, vergessen Sie bitte nicht, die Herkunft korrekt anzugeben, wenn möglich aus dem gedruckten Buch. Vielen Dank!

 



*     Im Text mit einem Stern gekennzeichnete Begriffe werden im Anhang des Buchs (Glossar - Erklärung der Fachbegriffe) erklärt.

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0